Unerhörte Gerechtigkeit

Predigt zu Lk 18,1-8

Jan Luyken: Gleichnis vom ungerechten Richter (1712) © Rijksmuseum / Wikicommmons

Von Dennis Schönberger

Wir hören den Text aus dem Evangelium Lk 18,1-8 nach einer Übersetzung des französischen Theologen Francois Bovon, der den Text sehr genau übersetzt hat, was mir wichtig ist.

1 Er erzählte ihnen auch eine Parabel, um ihnen zu sagen, daß man immer beten muß und sich dabei nie entmutigen lassen darf. 2 Es gab aber in einer Stadt einen Richter, der Gott nicht fürchtete und auch einen Menschen nicht achtete. 3 Es gab in jener Stadt aber eine Witwe, und sie kam zu ihm und sagte: Verschaffe mir Recht vor meinem Gegner. 4 Und während langer Zeit wollte er nicht. Dann aber sagte er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und einen Menschen nicht achte, 5 werde ich dieser Witwe, weil sie mir Ärgernis bereitet, ihr Recht verschaffen, aus Sorge, damit sie nicht am Ende kommt und mich misshandelt.

6 Dann sagte der HERR: Hört, was der ungerechte Richter sagt! 7 Und wird Gott etwa seinen Auserwählten nicht Recht schaffen, die Tag und Nacht zu ihm schreien? Und er wartet ihnen gegenüber ab. 8 Ich sage euch, daß er ihnen unverzüglich Recht verschaffen wird. Wird hingegen der Menschensohn bei seinem Kommen den Glauben auf der Erde finden?“1

Gott, schenke uns ein Wort für unser Herz und ein Herz für dein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde,

meine Predigt hat zwei Teile. Der erste Teil sucht in die Gedanken und Emotionen der Witwe einzudringen. Der Frau ist schweres Unrecht widerfahren. Ihr Rechtsbeistand hat sie sehr lange hingehalten, sodass sie zwischen Wut und Ohnmacht schwankt; statt zu verzweifeln hat sie sich vorgenommen, nicht aufzugeben und hofft auf eine Erhörung ihrer Bitte(n) durch einen Richter. In der größten Not würde sie eher zu Gewalt greifen, als ihr Verfahren für erledigt zu halten.

Der zweite Teil versucht die Rede von Gott als Richter zu verstehen – in seiner Bedeutung für uns heute. ER ist gerecht, geduldig und treu – darunter leiden Menschen.

Ich komme zum ersten Teil.

Sie saß allein in ihrem Zimmer. Sie war die Abläufe unzählige Male durchgegangen und konnte sich keinen Reim darauf machen, was sie falsch gemacht haben könnte. Sie fragte sich: „Wann bekomme ich Recht? „Wer verschafft mir Recht? Wie wird mir Gerechtigkeit widerfahren?

Als sie ihren Ehemann vor über einem Jahr tot in ihrer gemeinsamen Wohnung gefunden hatte, war Frau G. in Ohnmacht gefallen; blutüberströmt lag er auf dem Boden. Verbrecher hatten ihn mit Knüppeln niedergestreckt, alles Wertvolle gestohlen und ihn achtlos in der Wohnung liegen lassen. Es konnte noch nicht lange her sein, dass die Mörder weg waren. Sie waren ja schließlich stadtbekannt. Das wusste die Witwe, das wusste ihr Mann. Die Bande belästigte die Menschen des Viertels schon seit Jahren. Sie stellte Bürgern vor allem nachts nach, schikanierte Alt und Jung, vor allem die Armen. Viele wussten, dass einige Gangmitglieder in Menschenhandel verstrickt waren. Ein paar waren schon im Gefängnis gelandet. Ihre Taten machten sprachlos.

Und nun Paul – mit dem sie dreißig Jahre verheiratet war. Als sie sich damals wieder berappelt hatte, ging sie zur Polizei. Da stieß sie auf taube Ohren. „Haben viel zu tun! Andere Fälle gehen vor! Kommen Sie später wieder!“ Sie war fassungslos und dachte erneut: „Wann bekomme ich Recht? „Wer verschafft mir Recht? Wie wird mir Gerechtigkeit widerfahren?

Sie hatten keine Kinder. Niemand konnte ihr beistehen. Frau G. besaß keine Geschwister. Paul hatte einen Bruder, der Rechtspfleger war und Kontakte zum städtischen Gericht unterhielt. Peter werde ich ansprechen, überlegte sie. Sie nahm sich vor, sich nicht wieder von Männern abspeisen zu lassen. Paul war in der Hinsicht ein ganz Lieber gewesen. Peter hingegen war anders. Aber als sie ihn zu sich einlud, kam er sofort. Sie war froh. Er kannte tatsächlich einen Richter, mit dem er schon viele Fälle besprochen hatte und gab ihr die Adresse. Schon am übernächsten Tag fuhr sie zu Herrn K, dem Richter. Paul wird morgen beerdigt, überlegte sie. Sie konnte jetzt nicht länger bei diesem Gedanken verweilen, sonst hätte sie losgeweint.

Als sie beim Richter ankam, wurde ihre Hoffnung schnell auf den Boden der Tatsachen zurück-geholt: Überarbeitet, sei er, so Richter K. Zudem habe er keine Hoffnung, auch nur ein Mitglied des Syndikats zu schnappen: zu gut organisiert und zu verschwiegen. Wie sich später herausstellen sollte, hatte Herr K. der Witwe nicht die volle Wahrheit gesagt: Er stand kurz vor der Pensionierung und wollte sich schwere Fälle nicht antun. Er fürchtete die Verbrecherbande nicht, aber er wollte seine Ruhe.

Ein Jahr war inzwischen vergangen. Ihr Alleinsein wich der Einsamkeit. Unzählige Male hatte sie beim Richter vorgesprochen. Als das nicht weiterhalf, war sie am Telefon grob geworden – sie hatte ihn geschimpft: Er habe doch kaum Arbeit, sie wisse Bescheid über seine Pension! Selbst vor Beleidigungen schreckte sich nicht mehr zurück. Sie wurde so aufdringlich, dass sie Herrn K. jeden Tag anrief.

Der fühlte sich genervt, hatte seine liebe Mühe mit Frau G., die ihm zu zudringlich wurde. Das Letzte, woran sie sie sich erinnerte war, dass sie ihm, weil er seinen Telefonanschluss gekündigt hatte, Email über Email schickte. Er schwieg! Letzten Freitag: eine allererste Nachricht! Er sei ihre Penetranz nun leid. Er selbst werde sich bis Sommer, es war noch Dezember, intensiv mit ihrem Fall befassen und ihn dann an seinen Nachfolger, Herrn V., abgeben, der der wachsamste und treuste Mensch auf Erden sei, und der ihr zu ihrem Recht verhelfen werde: zur Anklage der Verbreche – inklusive Verurteilung. Sie fragte sich: Muss ich wirklich erst schreien, damit er mich hört? Soweit die Geschichte. Was soll sie bedeuten? Ich komme zum zweiten Teil.

Wie im Gleichnis stößt die einsame, aber penetrante Witwe beim Richter zuerst auf Widerstand und dann auf Verständnis, denn er ist ihrer Beschwerde überdrüssig, und will den Fall an seinen Kollegen übergeben. Das ist sein gutes Recht! Wie im Gleichnis ist dieser Richter furchtlos. Er scheint die Verbrecher zu kennen, aber seiner Verantwortung kommt er nicht nach. Unmotiviert ist er. Er muss ans Recht erinnert werden. Das ist ihm lästig, weil diese Witwe ihm lästigfällt.

Es geht im Gleichnis nicht nur um Recht. Es geht auch um Moral. Eine verlässliche Person ist sein Nachfolger. Dieser ist nicht so kühl und abwartend, wie Herr K. Herr V. weiß, was es heißt wehrlos zu sein und zugleich wehrhaft sein zu müssen. Er weiß, was es heißt, Menschen – am Rand – unter die Arme zu greifen. Er war selbst arm. Er weiß exakt, wie es diesen Armen geht, weil sie z.B. kinderlos, elternlos, versorgungslos, ahnungslos oder anders -los sind. Menschen, bei denen viel los ist. Menschen, bei denen es zu Einschnitten, ja sogar Auflösungen gekommen ist. Menschen: unerhört!

Herr V. kennt sich in diesem Bereich, der unser aller Bereich ist, bestens aus! Vom Richter hat er gelernt, was es heißt, sich in den Gesetzen auszukennen. Er weiß darum auch, dass gut Ding Weile haben will, dass da, wo es zu wahrhaft gerechten Verhältnissen kommen soll, es einen langen Atem aller Beteiligten braucht. Es gibt Umwege, aber am Ende werden Früchte geerntet. Herr V. weiß: Gerechtigkeit erfordert Aufrichtigkeit bis zum Ende, ja, bis zum bitteren Ende!

Recht und Unerbittlichkeit schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Das weiß auch die Witwe und Herr V. hat darum eine doppelte Sorge: Sie wird auch ihm Mühe machen, damit er sich Mühe gibt. Und sie wird, wenn er sich zu wenig Mühe oder keine gibt, zornig. Und das kann er gut verstehen. Recht so! Er muss auf der Hut sein: Die Täter muss er fassen, das Opfer schützen. Diese verdienen Strafe, jene Wiedergutmachung und Rehabilitation – das Böse muss aus der Mitte beseitigt werden, das Gute die Oberhand gewinnen. O! Wie lange noch? (Ps 6,4)

Damit sind wir bei der Deutung des Gleichnisses und beim biblischen Verständnis von Gericht: In der Evangelischen Kirche wird das Thema Gericht meist totgeschwiegen – oder verharmlost. Leider! AT und NT sind sich einig: Gott ist Richter und er will Gerechtigkeit für alle Geschöpfe. Gericht heißt: Gott unterscheidet zwischen Gut und Böse. Diese Unterscheidung trifft er! Nicht wir. Diese Unterscheidung geht wie ein Riss durch die gesamte Schöpfung, mit allem und allen darin. Er geht durch die Welt, durch die Kirche, durch jeden Einzelnen. Was waren gute Taten, was böse? Welche bleiben? Welche sind zum Vergehen bestimmt? Das Besondere an unserem Gleichnis ist, dass es auf mindestens zwei Ebenen verstanden werden kann, nicht vereindeutigt werden darf. Wir neigen zum Vereinseitigen. Was meine ich?

Erstens: Die Frage nach Gottes Gericht ist eine Frage, die ins Gebet gehört. „Wo Glauben ist, ist auch Gebet.“2 Doch der Text spricht von einem besonderen Gebet: vom Bittgebet, der Bitte. Wieso? Weil wir Menschen bedürftig sind, beschwert sind! Ist uns das bewusst?

Wissen die Christenmenschen noch, dass sie bitten sollen, weil sie arm sind, weil nur in solchen der Ärmste der Armen, Jesus, stark ist? Wissen wir, dass er zu Gott geschrien hat, dass der ihn nicht allein lasse, der Einsamkeit preisgebe (Mk 14,52)? Unser Gleichnis spricht Klartext: Bittet – und zwar penetrant, schreit zu Gott. Wer nicht schreit, will Gott nicht belästigen, nicht an ihn appellieren, dass er endlich zu Hilfe kommen soll. Vielleicht denkt der ein oder andere von uns: Gott ist ganz fern! Er lebt im Universum? Oder: Er existiert gar nicht! Was soll das Beten?

Aber: Gott kommt dir und mir zur Hilfe, wenn wir bitten, schreien, klagen, uns die Augen aus-heulen, weil uns Unrecht getan wurde und wird. Wer hat dir Unrecht getan, wer war abweisend, wer war eiskalt? Wer hat dich hängen lassen, Versprechen um Versprechen gebrochen, wer hat dich zurückgelassen? Wo warst du Opfer?

Auch umgekehrt: Wo warst du Täter? Wo hast du rücksichtslos gehandelt? Wo hast du andere in Verzweiflung gestürzt mit dem Reden oder Schweigen, willentlich oder aus Versehen? Wo sind Wort und Tat auseinander gegangen? Und wo haben andere ihr Vertrauen in dich gesetzt, und du hast sie im Stich gelassen, ihre Not nicht gesehen, ihren Hunger, Durst, ihre Fremdheit, ihre Unfreiheit, ihre Einsamkeit?

Liebe Gemeinde, das Gericht Gottes geht durch die Schöpfung durch wie ein Messer durch weiche Butter, weil es noch gewaltiger ist als Sünde, Teufel, Tod (1Kor 15,55f.). Es geht durch uns hindurch als Gemeinde Jesu Christi. Denn Er behauptet frech: „Amen, ich sage euch: Was ihr einem meiner geringsten Brüder oder Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan – und wenn sie noch so unbedeutend sind.“ (Mt 25,40: BB).

Zweitens: Der Vater übergibt dem Sohn das Gericht. Das Gericht ist geschehen und es kommt. Wie passt das zusammen? Das Gericht ist Aufrichtung. Gottes Recht soll herrschen! Alles Böse zwischen uns und Gott und untereinander wird er verwandeln. Er wird uns so verwandeln, dass er unsere Lebensgeschichte umschreibt in seine Geschichte. Wer und was uns geprägt haben mag, was uns auch froh oder besorgt haben mag. Er kennt das alles, nimmt es an, wäscht, wäscht es weiß. Wie ein unbeschriebenes Blatt kommen wir aus seinem Gericht heraus! Und doch ist dieses Gericht eine Zumutung.

Stattgefunden hat es am Kreuz. Jesus Christus hat alle mit sich versöhnt! Doch wir fragen ängst- lich: Stimmt das auch? Und: Gehöre sogar ich zu ihm? Trotz der Versöhnung besudeln wir sein Gesetz (Gal 6,2), schreien nicht wie die Witwe nach Gerechtigkeit und bitten nicht, wie es uns geboten ist. Im Nächsten sehen wir nicht Jesus Christus, sondern wie in der Politik Freund oder Feind. Was ist nur los mit uns?

Das ist los: Wir sind versöhnt! Also lasst euch versöhnen mit Gott (2Kor 5,19)! Wir reißen die Versöhnung auseinander, wenn wir uns Gottes Gerechtigkeit vom Hals halten. Alle Opfer der Weltkriege, der Kriege heute! Ihr Blut schreit wie das Abels zum Herrn, es schreit! Können wir es (noch) hören? Der Mord, den Kain begann (Gen 4). Er muss um Gottes willen doch ein Ende finden! Er gehört verworfen samt den Mächten und Gewalten, dem Widersacher und dem Tod – hinab in den Abgrund (Apk 20,15).

Wer in dieser Welt nicht für Gerechtigkeit unter den Menschen kämpft, zerteilt die Versöhnung. Deshalb die bange Frage: Wird der Menschensohn Glauben finden? (Lk 18,8). Ja, wer ist der Menschensohn? Der Gekreuzigte! Der Auferstandene! Wer sind die Erwählten? „Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt“ (vgl. EG 358,1). Hüten wir uns davor, Menschen für verloren oder gar für verworfen zu halten. Gott lässt über Gerechten und Ungerechten die Sonne scheinen. Lasst uns das auch tun! Wer ist der Gegner? Ist er mein Gegner! Vielleicht ist es ein Mitmensch, der es dir schwer macht mit ihm zurechtzukommen. Vielleicht bist du es aber auch selbst, der nicht mehr ein noch aus weiß, und es so anderen schwer macht. Wie sollen wir denn in dieser Welt zurecht kommen? Mit unserem entweder zu allzu großen oder allzu kleinen Ego! Vielleicht ist dein und mein Gegner aber auch Gott selbst, der richtet! Schon jetzt! Hoffentlich!? Dann lasst uns zurückkehren zu dem, der uns Recht schafft, weil er uns von Herzen liebt!

Wer ist der ungerechte Richter? Ein jeder von uns! Wer ist die Witwe? Ein jeder von uns! Gott weiß das! Wissen wir, wie wir beten sollen? Treue im Weinen und Lachen will er bei uns finden – um nicht am Ende sagen zu müssen: Euch kenne ich nicht bzw. euch erkenne ich kaum wieder (Mt 7,23). Ja, das Evangelium ist streng!

Drittens: Gott mahnt in dieser Erzählung ohne Unterbrechung, wachsam zu sein, jede Not und jeden Notleidenden in die Fürbitte einzuschließen. Hier in der Gemeinde – und in den Familien. Anspruchsvoll ist das. Wir sollen wir das nur schaffen? Überfordert euch ja nicht! Der Richter, Jesus Christus, ist im Gericht der Fürsprecher seiner Erwählten. Die Gemeinde, sie ist von Jesus Christus dazu erwählt, gute Werk zu tun, böse zu unterlassen und bei Versagen zurückzukehren zum geliebten Sohn. Die Frage, ob Jesus unter uns Treue findet, muss uns beunruhigen. Das ist heilsam! Eine Kirche, die von innen und außen in Ruhe gelassen werden will, nicht penetrant-nervig schreien will, wie die Witwe, ist schon gerichtet.

Gebet

Hilf uns, dass wir lernen, zu unterscheiden, was gut und böse ist vor dir, lernen, aufrichtig zu bitten statt heuchlerisch zu danken, dass es uns so gut geht in Mitteleuropa. Dass wir lernen, einander ins rechte Licht statt herabzusetzen. Dass wir lernen, Christus ohne „Wenn und Aber“ nachzufolgen, indem wir ihn in den Durstigen, Hungrigen, Fremden und Gefangengen sehen – und uns in ihnen und ihm selbst erkennen!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.“ (Phil 4,7: ZB).

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1 Francois Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 15,-19,27), in: EKK, III/3, Düsseldorf/Zürich 2001, 185.

2 Zit. in: A.a.O., 197.


Dennis Schönberger