Der Zaun um die Tora: Vorsichtsmaßregel, um die Gebote zu halten
Wer ist ein Blutvergießer?
Wie ist ein Gebot Gottes genau zu verstehen? Was müssen wir konkret tun, was lassen? Wie verstehen wir den Wortsinn richtig? Vor diese Fragen gestellt entwickelt rabbinische Schriftauslegung eine Interpretationsweise, die "einen Zaun um die Tora machen" genannt wird. Mit diesem "Grundprinzip" wird "der Anwendungsbereich der biblischen Gesetze" ausgeweitet, um dadurch "die Einhaltung der biblischen Vorschriften sicherzustellen und das gesamte Leben unter das 'Joch des Gesetzes' zu stellen", so Günter Stemberger.
Am Anfang der Sprüche der Väter, dem Traktat Pirke Avot im Babylonischen Talmud, steht die Aufforderung, einen Zaun um die Tora zu machen:
"Mose empfing die Tora vom Sinai und gab sie Josua weiter, und Josua den Ältesten, und die Ältesten den Propheten.
Und die Propheten gaben sie den Männern der Großen Synagoge weiter.
Diese sagten drei Dinge:
Seid zurückhaltend im Gericht, und zieht viele Schüler heran,
und macht einen Zaun um die Tora."
Ein klassisches Beispiel für diese Art der Schriftauslegung ist die Frage, wann das "Höre, Israel" am Abend gebetet werden soll. In Deuteronomium, 6,7 steht: "wenn du dich niederlegst oder aufstehst", sollst du dir die Worte Gottes zu Herzen nehmen.
Welche Uhrzeit ist mit dem Niederlegen gemeint? Der Talmud diskutiert mehrere Vorschläge, etwa "bis zum Ende der ersten Nachtwache" oder "bis Mitternacht" oder "bis die Morgenröte aufsteigt".
"Bis Mitternacht" wird als "Vorsichtsmaßregel" (Stemberger) erläutert:
"Denn so haben wir gelernt: Die Weisen machten einen Zaun um ihre Worte, damit nicht abends jemand vom Feld kommt und sagt: Ich werde nach Hause gehen und ein wenig essen, ein wenig trinken und ein wenig schlafen, und nachher werde ich das 'Höre Israel' rezitieren und beten. Dann aber übermannt ihn der Schlaf und er schläft die ganze Nacht.
Vielmehr: Jemand kommt abends vom Feld. Er betrete die Synagoge, und wenn er es gewohnt ist, Bibel zu lesen, lese er, und wenn er gewohnt ist, Mischna zu lernen, lerne er. Dann rezitiere er das 'Höre Israel' und bete und gehe heim, esse sein Brot und spreche den Segen." (aus: Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot, nach Stemberger, 72)
An anderer Stelle im Talmud wird diskutiert, wer zu den "Blutvergießern" gehört:
Ein Mischnalehrer tradiert als Lehre von Raw Nachman bar Jizchak:
"Jeder, der das Angesicht seines Nächsten öffentlich erbleichen lässt (z.B. durch kränkende Worte), ist wie ein Blutvergießer. Er (Jizchak) antwortete: Du hast recht geredet; denn ich sehe an ihm, dass die Röte geht und die Blässe kommt." (Babylonischer Talmud, Traktat Baba Mezia 58b nach von der Osten-Sacken, 97)
Persönliches P.S.: Ein Strukturvergleich mit dem Heidelberger Katechismus drängt sich quasi von selbst auf: Zieht nicht auch die Auslegung des Heidelbergers zum Gebot "Du sollst nicht töten" einen Zaun um die Tora? Das Gebot wird ausdrücklich ausgeweitet auf Schmähen, Hassen, Beleidigen, neidisch, zornig und rachgierig sein, so HK 105 und HK 106.
Quellen:
Stemberger, Günter, Der Talmud. Einführung - Texte - Erläuterungen, München 1994.
von der Osten-Sacken, Peter, Katechismus und Siddur. Aufbrüche mit Martin Luther und den Lehrern Israels, VIKJ 15, 2. Aufl. Berlin 1994.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie "Am Rockzipfel des Judentums - Freitags ein Denkanstoß aus dem Hause Israel"
in Anlehnung an Sacharja 8,23, wo der HERR der Heerscharen spricht:
"In jenen Tagen, da ergreifen, ja ergreifen zehn Menschen aus allen Sprachen der Nationen den Zipfel einer einzigen jüdischen Person und sagen: 'Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Mit euch ist Gott.'" (BigS)
bs, 10. April 2013