Nicht von dieser Welt

Notat to go. Von Barbara Schenck


Ein „Neuer Realismus“ ist gerade angesagt. Ja, das ist ein Fachbegriff. Ade Metaphysik, ade Konstruktivismus, willkommen, Neuer Realismus.

Die Wirklichkeit nur als die Welt ohne Zuschauer zu verstehen wie die Metaphysik in ihrem Streben, Grundstruktur und Prinzipien der Wirklichkeit zu erkennen, oder, so der Konstruktivismus, die Welt nur als die Welt der Zuschauer zu sehen, sei eine „Vereinfachung der Wirklichkeit“, sagt Markus Gabriel. Stattdessen schlägt der Philosoph vor, die Welt als den Bereich aufzufassen, der „alles umfasst“, also Dinge und Tatsachen, die es ohne uns gibt, als auch unsere Gedanken und Träume.
Ein anschauliches Beispiel erklärt das:
„Nehmen wir an, Astrid befinde sich gerade in Sorrent und sehe den Vesuv, während wir (also Sie, lieber Leser, und ich) gerade in Neapel sind und ebenfalls den Vesuv betrachten.“
Für die Metaphysik gebe es nur einen wirklichen Gegenstand: den Vesuv. Wer sich für ihn interessiere, das gehe den Vesuv nichts an.
Für den Konstruktivismus gibt es „den Vesuv für Astrid, Ihren Vesuv und meinen Vesuv“. Der Neue Realismus hingegen nehme an, es gebe mindestens vier Gegenstände: 1. den Vesuv, 2. den Vesuv von Sorrent aus gesehen (Astrids Perspektive), 3. den Vesuv von Neapel aus gesehen (Ihre Perspektive) und 4. Den Vesuv von Neapel aus gesehen (meine Perspektive), erläutert der Philosoph.

Warum es die Welt nicht gibt

Der publikumswirksame Clou in Gabriels Argumentationskette ist ihre Konsequenz. Wenn die Welt größer sei als das Universum und alles umfasse, also neben den naturwissenschaftlich fassbaren Dingen auch „Träume, nicht realisierte Möglichkeiten, Kunstwerke und insbesondere auch unsere Gedanken über die Welt“, dann könne es sie nicht geben: „dieses Allumfassende, die Welt, gibt es nicht und kann es auch nicht geben“, aber „außer der Welt“ gebe es „alles“. Anders gesagt: Es gibt viele kleine Welten, aber nicht alles hängt mit allem zusammen.

Theologischer Missbrauch?

Da ist Raum für meinen Glauben – ohne weitere Apologetik! Super! Das Wort Glaube muss nur den Gedanken und Träumen hinzugefügt werden. Und zu „alles“ gehört Gott.
Ganz glücklich, dass ein junger zeitgenössischer Philosoph jenseits allen atheistischen Redens denkend diese Weite hat, meldet sich schon das schlechte Gewissen: Ist das jetzt theologischer Missbrauch? Vereinnahme ich ein Denken, dass von Theologie nichts wissen will?

Weit gefehlt. Markus Gabriel selbst sieht die Nähe: Religion sei „das Gegenteil einer Welterklärung“ und stehe der These, dass es die Welt nicht gibt, nahe. Als Beispiel aus christlicher Tradition nennt er „die berühmte Äußerung Jesu, sein Reich sei nicht von dieser Welt“.

Verrat an Karl Barth?

Aufgewacht aus dem neuen Begeisterungstaumel folgt ein zweiter Gewissensbiss: Was ist das eigentlich in mir, dieses Bedürfnis, mein Gott-Denken philosophisch zu rechtfertigen? Ist der Zweifel zu groß, der Gegenstand der Theologie könne nicht von sich selbst überzeugen und sich selbst durchsetzen? Habe ich gerade meinen Lehrmeister Karl Barth verraten, der warnt: Die Theologie könne sich „von der Frage nach dem im biblischen Zeugnis (…) nicht auf das tote Geleise der Frage nach einer allgemein einsichtigen Möglichkeit von dessen Aussage – als wäre das die ihr aufgegebene Wahrheitsfrage! – abdrängen lassen“?

Neuer Schluss

Am 1. Mai hätte die Kolumne an dieser Stelle geendet. Doch dann kam die Barth-Tagung in Emden mit kritischen Anfragen an Barths Einführung in die evangelische Theologie von Magdalene L. Frettlöh. Ja, auch als Barth-Schülerin kann ich’s gestehen, mit Frettlöhs Worten gesagt: „Barths Einführung dient der Vergewisserung evangelischer Theologie nach innen. Mit der Aufgabe der Vermittlung der ihr eigenen Wissenschaftlichkeit nach außen lässt sie uns allein“.
Es gibt halt einen Punkt, da müssen die Schülerinnen und Schüler einfach selber denken - und sich von anderen beraten lassen.

Literatur:
Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013.
Zitate: S. 15, 14f., 17, 18, 211.
Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Theologischer Verlag Zürich, 1985 (1962), .75.
Magdalene L. Frettlöh, Von weisheitlicher Theanthropologie und vergnügten TheologInnen. Notizen zu Karl Barths „Einführung in die evangelische Theologie“, Vortrag, gehalten am 2. Mai 2014 in Emden. Der Vortrag wird in überarbeiteter Form erscheinen in der Dokumentation zum dritten internationalen Barth Symposion: „Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950 - 1968)“.

Barbara Schenck, 7. Mai 2014

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Susanne Bei der Wieden, 7. Mai 2014:

Aber die Bibel (und in ihr Jesus) sagt ja nicht, dass diese Welt nicht ist, sondern dass sie vergeht. Vergeht sie so, dass sie sich in immer mehr Gedanken, Träume, "Welten" aufspaltet? Vergeht sie, je mehr unsere Welt an Komplexität gewinnt?

 

Barbara Schenck, 7. Mai 2014:

Zunächst einmal ist mein Eindruck, dass Gabriels Formulierung „Die Welt gibt es nicht“ bewusst etwas effekthascherisch, wie oben gesagt: publikumswirksam, ist. Die Betonung liegt auf „die“ und nicht auf Welt. Das Wort Welt verwendet Gabriel selbst auch. Was es nicht gibt, ist die Welt als das Allumfassende. Stattdessen gibt es viele Welten: das, was du denkst und fühlst, wenn du „Welt“ sagst; das, was ich meine, wenn ich „Welt“ schreibe; das, was eine naturwissenschaftliche Definition als Welt begreift; das was Gottes Wort sagt, wenn es von ha olam spricht.
Wenn diese Welt vergeht, ist biblisch ja nicht Nichts, was der Fall sein müsste, existierte die Welt als das Allumfassende.
Spannend an dieser Stelle ist m.E. 1. Korinther 15,28 mit dem „So wird Gott alles in allem sein.“ (Übersetzung von Luise Schottroff). Das Allumfassende ist verheißen als zukünftiges Heil, aber somit eben auch als etwas, das menschlicher Erkenntnis ein Mysterium ist.

[Bei dieser philosophischen Deutung ist mir bewusst, dass sich Paulus‘ Zeilen, so wie Schottroff es tut, mit Psalm 8,7 auslegen und deuten lassen. Mit dem panta sind dann alle Feinde und feindlichen Mächte gemeint, die Gott sich unterwirft.
Aber es macht mir einfach eine gewisse Freude weiterzudenken.]