Der priesterliche Segen aus dem 4. Buch Mose, hier in der Übersetzung von Nechama Leibowitz, wurde in unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Menschen gesprochen: einst waren alle Leviten, nicht nur die Priester, berechtigt, den Aaron und seinen Söhnen aufgetragenen Segen zu sprechen (5. Buch Mose 10,8), zur Zeit des Zweiten Tempels stimmten die Priester den Segen täglich zum Morgenopfer an oder (gelegentlich) am Ende von Gottesdiensten. Während heute in liberalen jüdischen Gemeinden die Verkündigung des Segens nicht mehr auf die Nachfahren der Priester, die Kohanim, beschränkt ist, ist es in orthodoxen Gemeinden nach aschkenasischem Ritus den Nachfahren der biblischen Kohanim, also jüdischen Familien mit Namen wie Cohn, Kahn, Cowan, Kagan oder Katz vorbehalten. Dabei werden die "Priester" von Mitgliedern levitischer Familien, die etwa den Namen Levy, Levin oder Lewissohn tragen, unterstützt. Beim Sprechen des Segens heben die "Kohanim" ihre Hände und spreizen die Finger, um so den hebräischen Buchstaben Schin abzubilden. Das Schin ist der Anfangsbuchstabe von Schaddai, dem Allmächtigen.
"Gott wird dich segnen und behüten"
Der Segen in Numeri 6, 24-26 besteht aus einer dreifachen Segensformel. Jüdische Auslegung erkennt darin eine Steigerung von einem ersten Segensspruch, der sich auf Materielles bezieht, zu einem zweiten, der spirituell gemeint ist, hin zu einem dritten, der beides verbindet. Mit den Worten von Joseph Herman Hertz: "'Der Ewige segne dich' - mit Besitztümern; 'und behüte dich' - vor den Besitztümern, die du besitzt. Möge Gott dich bewahren vor Sünde und dich beschützen vor allem schädlichen Einfluss, der so oft im Gefolge irdischen Wohlstands entsteht."
"Gott wird Sein Angesicht zu dir erheben"
Im Babylonischen Talmud, Traktat Rosch Haschana 17b, führt die Frage der gelehrten Proselytin Bruria, alias Valeria, zu einer Antwort auf die Frage, wie es zu verstehen sei, dass Gott an einer Stelle der Bibel sein Angesicht erhebe, während an anderer Stelle betont werde, dass er dies nicht tue:
"Valeria, die Proselytin, fragte Rabban Gamliel: In eurer Weisung [5. Mose 10,17] steht geschrieben: Der das Angesicht nicht erhebt. ferner steht geschrieben: Der Herr erhebt sein Angesicht dir zu [4. Mose 6,26]. da trat Rabbi Jose, der Priester hinzu und sagte zu ihr: ich will dir ein Gleichnis erzählen. Womit ist dies zu vergelichen? Mit einem Menschen, der seinem Gefährten eine Mine lieh, und er setzte ihm im Angesicht des Königs eine Frist, und dieser beschwor es ihm beim Leben des Königs. Als die Frist verstrichen war, bezahlte er ihn aber nicht und ging, den König um Nachsicht zu bitten. Und der sagte zu ihm: Meine Demütigung sei dir verziehen. Geh und bitte deinen Gefährten um Nachsicht! So ist es auch hier: Das eine bezieht sich auf die Übertretung zwischen einem Menschen und dem Allgegenwärtigen, das andere bezieht sich auf Übertretungen zwischen einem Menschen und seinem Gefährten."
Mit anderen Worten: "Bei Übertretungen gegen ihn selbst erhebt Gott sein Angesicht dem um Verzeihung Bittenden zu und vergibt ihm; bei Verfehlungen zwischen Menschen verzeiht Gott aber erst, wenn sich die Menschen zuvor untereinander ausgesöhnt haben." (Mayer, Talmud, 512).
Literatur:
Leibowitz, Nechama, Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen, Jerusalem 2006.
Mayer, Reinhold, Der Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt, München 1980.
Plaut, W. Gunther, Die Tora in jüdischer Auslegung, übersetzt von Annette Böckler, Gütersloh 2008.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie "Am Rockzipfel des Judentums - Freitags ein Denkanstoß aus dem Hause Israel"
in Anlehnung an Sacharja 8,23, wo der HERR der Heerscharen spricht:
"In jenen Tagen, da ergreifen, ja ergreifen zehn Menschen aus allen Sprachen der Nationen den Zipfel einer einzigen jüdischen Person und sagen: 'Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Mit euch ist Gott.'" (BigS)