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Melanchthon und Calvin im Ostseeraum
Ein Tagungsbericht von Magnus von Hirschheydt
Die Tagung "Melanchthon und Calvin im Ostseeraum" wurde als gemeinsame Veranstaltung der Lehrstühle für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald und für Neuere Geschichte der Universität Tübingen in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V. durchgeführt. Sie wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert.
Ort des Symposions war der Konferenzsaal des Universitäts-Hauptgebäudes der Universität Greifswald.
Das Ziel war, neben dem akademischen Begehen der Jubiläen Johannes Calvins und Philipp Melanchthons, die Beförderung von Kontakt und Austausch unter Frühneuzeitforschern verschiedener Disziplinen aus Deutschland, Schweden, Lettland und Estland. Damit schloss das Symposion an Konferenzen zu ähnlichen Themen in Greifswald 2004, 2005 und 2007 sowie in Tallinn/Reval 2006 und Riga 2008 an.
Den Einstieg in das Thema machte MATTHIAS ASCHE (Tübingen) in seinem Abendvortrag über das Wegenetz frühneuzeitlicher Studenten. Ausgehend von einer Darstellung des lückenhaften Forschungsstandes zum Thema der Sozialgeschichte der europäischen Universität versuchte Asche, eine Typologie der studentischen Migration, der Peregrinatio academica, im Konfessionellen Zeitalter zu entwerfen. Im Zentrum seiner das gesamte europäische Universitätswesen umfassenden Bestandsaufnahme stand gleichermaßen eine Gesamtanalyse der regionalen Einzugs- und Ausstrahlungsbereiche von Hochschulen sowie der geographischen Mobilität von Studenten und deren jeweiligen konfessionellen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Im Ergebnis seines Vortrages wurde ein gesamteuropäisch wirksames Migrationssystem von Nord nach Süd und von Ost nach West deutlich, welches Asche durch ein strukturelles Gefälle "zwischen Zentrum und Peripherie" erklärte, das allerdings durch die Konfessionalisierung des europäischen Hochschulwesens maßgeblich determiniert und gefestigt wurde.
KRISTA KODRES (Tallinn) eröffnete die erste Sektion, welche sich mit dem Humanismus und der Reformation im Ostseeraum in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Verquickungen beschäftigte. In ihren Ausführungen wertete sie aus kunsthistorischer Sicht die heute noch sichtbaren Zeugnisse in den Kirchen Estlands aus. Hierbei stellte sie die These auf, dass sich gerade in lutherischen Kirchen bei den Bildern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts und ihrer Motivwahl ein bewusstes Gegenkonzept zum Calvinismus erkennen lasse. Kodres bettete diese These in den Kontext der schwedischen Zeit Estlands ein. Sie erklärte, dass es sich bei dem weitaus größten Teil der Altarbilder um Abbildungen des letzten Abendmahles handelte. Darin erkannte sie die Möglichkeit, dass es sich um eine Abgrenzung vom Calvinismus handelte, welche der lutherischen Gemeinde die Realpräsenz Christi beim Abendmahl verdeutlichen sollte.
Anschließend sprach OTFRIED CZAIKA (Stockholm) über den Einfluss Melanchthons auf die Bildungsreformen im Schwedischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert. Czaika stellte fest, dass Melanchthons pädagogisches und didaktisches Konzept die Grundlage dieser Reformen bildete und dass er im humanistischen Sinn für diese Zeit als "Ziehvater der schwedischen Pfarrer" angesehen werden könne. Etliche Schüler Melanchthons wurden etwa in dieser Zeit zu Schulleitern in Schweden berufen. Czaika stützte sich bei seinem Vortrag unter anderem auf die Vielzahl von Melanchthondrucken in den schwedischen Bibliotheken und stellte anhand der Gebrauchspuren fest, dass sie noch lange nach der Bildungsreform intensiv für Studien genutzt wurden. Als Fazit zog Czaika, dass die schwedische Kirche deshalb "lutherischer und melanchthonischer Konfessionalität" sei.
VOLKER GUMMELT (Greifswald) behandelte in seinem Vortrag Jacob Runge, den Superintendenten der Kirche Pommern-Wolgasts von 1556 bis 1595. Dieser sei nicht gut erforscht und sein Werk nur ansatzweise erschlossen. Als Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast führte er eine pommersche Bekenntnissammlung in Anlehnung an die sächsische Bekenntnissammlung Melanchthons ein und vollzog damit die dogmatische Bindung an Luther und Melanchthon. Dabei bildeten die von ihm eingeführte Kirchenordnung, die Agenda und die Bekenntnissammlung die "drei Säulen des pommerschen Kirchenwesens", welche er auf General- und Partikularsynoden in Pommern gegen das Torgauer Buch und die Konkordienformel erfolgreich verteidigte. Gummelt stellte abschließend fest, dass Runges Reformen auch nach dessen Tod im Jahr 1595 für über zwei Jahrhunderte Bestand hatten.
In der zweiten Sektion, welche die Spuren des Calvinismus im Ostseeraum behandelte, schlüsselte ALEKSANDER LOIT (Uppsala) die verschiedenen Gruppen nicht-lutherischer und nicht-katholischer Gesinnung in den baltischen Landen auf. Grundlegend stellte Loit fest, dass es dort im 16. und 17. Jahrhundert keinen organisierten Calvinismus gab. Der Calvinismus wurde ausschließlich durch nicht-schwedische und nicht-baltische Gruppen wie Holländer, Schotten und Wallonen vertreten, welche sich aus wirtschaftlichen oder militärischen Gründen im Land befanden und im Allgemeinen keine Sonderrechte durch die schwedische Krone erhielten. Auf der Synode von Uppsala wurde die Augsburgische Konfession schon 1593 als einziges Bekenntnis festgelegt und die calvinistische Lehre damit aus dem gesamten schwedischen Reich ausgeschlossen. Loit stellte fest, dass es auch im schwedischen Reich beinahe zu Ausnahmen gekommen wäre. Es bestand zum Beispiel der Plan, Hugenotten und Puritaner für die Kolonisation Ingermanlands zu gewinnen. Dieser Plan zerschlug sich allerdings, weshalb die Calvinisten niemals eine Sonderstellung erlangen konnten, wie sie zum Beispiel die Anglikaner mit ihrem Recht auf Hausgottesdienste in Narva zugesichert bekamen.
Daraufhin stellte OJARS SPARITIS (Riga) calvinistische Spuren im Riga des 18. Jahrhunderts und am kurländischen Hof vor. Er beschrieb den starken Einfluss litauisch-calvinistischer Kirchenbauten auf die Architektur lutherischer Kirchen in Kurland. Für Riga nannte Sparitis die Innenausstattung der St. Johannes Kirche zu Riga, in welcher ein Gemäldezyklus installiert wurde, der einen verkürzten Kreuzweg darstellte. Sparitis bewies, dass die Motive des Kreuzweges eindeutig durch die Kupferstiche Rubens und der Lüneburger Bilderbibel beeinflusst waren. Für Sparitis zeigten sich in diesen Beispielen die Migration von protestantisch ikonographischen Motiven und der Nachweis eines regen Kunsthandels, welche Ausdruck der engen Verbindung von Nord- und Ostsee und des konfessionellen Geistesaustausches der Frühen Neuzeit seien.
WERNER BUCHHOLZ (Greifswald) spannte einen Bogen von der Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg im Jahr 1613 in Cölln an der Spree über die Anerkennung des Calvinismus in Artikel 7 des Westfälischen Friedens und das Problem des ius reformandi bis hin zu den praktischen und politischen Auswirkungen des Nebeneinanders beider Konfessionen in Brandenburg und (seit 1653) Hinterpommern. Am Beispiel der hinterpommerschen Landstände zeigte Buchholz, dass den Untertanen aufgetragen war, den Reformierten wohlgesonnen zu sein, zumal der Kurfürst ihnen die Augsburger Konfession bestätigte und den Calvinisten nur zugestehe, "was ihnen der Frieden von Osnabrück vorbehalte". Deshalb war bei konfessionell bedingten Streitigkeiten jeweils nur eine gütliche Einigung von Fall zu Fall möglich. Im Laufe der Zeit normalisierte sich die Situation und in der Folge führte das Edikt von Potsdam auch zu keinen starken Reaktionen durch die Lutheraner. Eine reibungslose Koexistenz beider Konfessionen schien jedoch trotzdem noch nicht in Sicht.
ANTON SCHINDLING (Tübingen) warnte vor einer einseitigen Überbewertung Melanchthons und verwies auf die Studien Martin Klökers, welche die Einflüsse des Straßburger Gymnasiums auf das Revaler Gymnasium aufzeigen. Dabei spielte eine Rolle, dass das Straßburger Schulwesen auf evangelischer Grundlage völlig neu organisiert und das Unterrichtswesen mit der Reformation der Kirche eng verzahnt wurde. Johannes Sturms programmatische Studienanleitungsschrift "De literarum ludis recte aperiendis" bildete das Konzept für eine humanistische Ausbildung, welche dezidiert auf dem Boden der Reformation in die Tat umgesetzt werden sollte. Johannes Calvin selbst lehrte am Gymnasium Illustre, dessen Mischung aus Lateinschule und Universität viele direkte und indirekte Nachahmer fand. So sieht Schindling die besondere Nähe des Calvinismus zu rationaler Bildung, Wissenschaft und Hochschulwesen als ein "indirekt vermitteltes Straßburger Erbe in der Genfer Reformation".
KLAUS GARBER (Osnabrück) erklärte, dass Calvin in der Literaturwissenschaft unterschätzt würde und spannte einen Bogen von der Psalmendichtung über das Epos hin zum Roman. Garber stellte fest, dass die deutsche Literatur bei dieser Entwicklung eher Nachzügler gewesen sei. Er sah jedoch in Martin Opitz einen Höhepunkt dieser Entwicklung, indem dieser aus den vielfältigen Einflüssen seiner europäischen Vorgänger Nutzen ziehen konnte und gleichsam im Verbund mit seiner reformierten Herkunft versuchte, eine eigene "deutsche Poesie" zu entwickeln.
Im zweiten Abendvortrag des Symposions stellte NORBERT BUSKE (Greifswald) einen historischen Bezug in die Neuzeit her. Buske begann mit dem Aussterben des pommerschen Herrscherhauses der Greifen im 30jährigen Krieg und der damit verbundenen Teilung Pommerns zwischen dem Kurfürsten von Brandenburg und dem König von Schweden. Die folgenden Entwicklungen in den verschiedenen Territorien und Städten behandelte Buske mit Rücksicht auf die unterschiedlichen calvinistischen Gemeinden separat. Außer den bekannten theologischen Streitigkeiten, wie zum Beispiel dem Abendmahlsstreit, stellten zunächst auch Lebensweise und soziale Herkunft Spannungsfelder dar. So sahen sich die Calvinisten als "Werkzeug Gottes" und waren deshalb grundlegend sozial- und erfolgsorientiert, außerdem herrschte unter den Vertretern des Calvinismus ein hoher Bildungsstand vor. Im Hinblick auf die einzelnen Gemeinden konnte Buske aufzeigen, dass die bi-konfessionelle Situation relativ schnell zu einem normalisierten und pragmatischen Nebeneinander, oftmals sogar zu einem Miteinander wurde. Bald kam es auch zu unionistischen Gedanken unter den Gelehrten wie zum Beispiel Schleiermacher. Letztendlich fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt und Abschluss in der altpreußischen Union von 1817. Tatsächlich herrschte schon vor der altpeußischen Union eine "gelebte Union" vor. Die damalige Bekenntniswirklichkeit und das ökumenische Verständnis waren, laut Buske, dem Unionsaufruf vielfach voraus geeilt.
Das Christentum der Esten und Letten bildete den Schwerpunkt in der dritten Sektion. RAIMO RAAG (Uppsala) bearbeitete dabei im ersten Teil eines sprachwissenschaftlichen Doppelvortrages die estnische Seite. Estnische Schriftzeugnisse kamen nicht vor dem 16. Jahrhundert auf und waren nur zu einem geringen Teil geistlichen Charakters, wie zum Beispiel ein lutherischer Katechismus. Raag konnte jedoch aufgrund dieser Zeugnisse eine sprachliche Entwicklung skizzieren, die auf die Durchdringung der estnischen Bevölkerung durch das Christentum Rückschlüsse erlaubt. Dabei finden sich sehr viele Lehnübersetzungen wieder, und viele ältere estnische Worte nahmen neue, christliche Bedeutungen an. Raag zeigte anhand des Namenmaterials, dass eine vollständige Durchdringung der estnischen Bevölkerung schon im 16. Jahrhundert weitgehend stattgefunden hatte aber noch lange nicht vollständig beendet war.
Im zweiten Teil des Doppelvortrags referierte PETERIS VANAGS (Riga) über das Lettische, in welchem die Sprachdenkmäler ebenfalls ins 16. Jahrhundert, die christlichen Einflüsse jedoch noch weiter, nämlich bis in das 9. Jahrhundert, zurückreichen. Wobei sich Lehnbedeutungen oft aus dem 11. Jahrhundert neben vorchristlicher auch mit christlicher Bedeutung erhalten haben. Viele Lehnwörter stammen aus dem Altrussischen, und es wurden viele weitere Lehnwörter aus dem Livischen entlehnt, was der chronologischen Reihenfolge der Christianisierung der baltischen Lande entspricht. Die christlichen Personennamen konnten ebenfalls wie im Estnischen spätestens im 16. Jahrhundert die Oberhand gewinnen, wobei dies noch ausgeprägter geschah als im Estnischen. Jedoch lässt sich auch hier ein stärkerer Einfluss russischer Namen auf die Schreibweise erkennen, je weiter man sich im Osten des lettischen Sprachraums hin zur russischen Sprachgrenze bewegt.
Das Symposion wurde durch eine Exkursion ins pommersche Hinterland abgeschlossen. Dabei wurden die Spuren der besonderen konfessionellen Entwicklung in mehreren Stationen besichtigt.
Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass die Vorträge durch eine fachliche Vielfalt der Blickwinkel auf das vorgegebene Thema bestachen. Die unterschiedlichen Formen des Einflusses, welche Johannes Calvin und Philipp Melanchthon auf die Anlieger der Ostsee hatten, wurden von Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Kunst- und Religionshistorikern sowie Historikern so heraus gearbeitet, dass sich vor allem die Diversität der Entwicklungen in den einzelnen Territorien an der Ostsee zeigte, die kein einheitliches Schema zulässt. In den Vorträgen und anschließenden Diskussionen ergab sich weiterhin, dass sowohl Calvin, viel stärker aber noch Melanchthon, die konfessionellen Entwicklungen dieser Territorien mit Nachdruck prägten.
Konferenzübersicht:
Matthias Asche, Tübingen "Wegenetze des europäischen Geistes - 'peregrinatio academica' europäischer Studenten im Konfessionellen Zeitalter"
Einführung
Werner Buchholz, Greifswald, Anton Schindling, Tübingen
1. Sektion: "Humanismus und Reformation"
Moderation: Werner Buchholz, Greifswald
Krista Kodres, Tallinn "Kulturtransfer nach Estland im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung"
Otfried Czaika, Stockholm "Die Rezeption Philipp Melanchthons in Schweden zurzeit der Vasa-Könige (1523-1654). Melanchthons Spuren in schwedischen Bibliotheken"
Per Stobæus, Lund "Bischof Hans Brask von Linköping als Kritiker des Bibelhumanismus"
Enn Tarvel, Tallinn "Auftreten und Wirkung Melchior Hofmanns in den baltischen Landen"
Volker Gummelt, Greifswald "Wirkung und Bedeutung des Melanchthon-Schülers und pommerschen Generalsuperintendenten Jacob Runge (1527-1595)" 2. Sektion: "Spuren des Calvinismus im Ostseeraum"
Moderation: Matthias Asche, Tübingen
Jens E. Olesen, Greifswald "Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon und die Reformation in Dänemark"
Aleksander Loit, Uppsala "Calvinisten in den baltischen Landen im 16. und 17. Jahrhundert"
Ojars Sparitis (Riga) "Die Emporenmalereien in St. Johann zu Riga nach den Kupferstichen der Lüneburger Bibel"
Werner Buchholz, Greifswald "Calvinistischer Landesherr und lutherische Stände: Reformierte Gemeinden in Hinterpommern und Brandenburg im 17. Jahrhundert"
Anton Schindling, Tübingen "Das Gymnasium Illustre als Schulmodell auch für den baltischen Raum: Spuren Straßburger und calvinistischer Pädagogik im lutherischen Kulturraum"
Klaus Garber, Osnabrück "Calvinismus und Literatur im europäischen Kontext der Frühen Neuzeit"
Norbert Buske, Greifswald "Die pommersche Kirche zwischen Luther und Calvin: Auf dem Weg zur Union"
3.Sektion: "Das Christentum der Esten und Letten"
Moderation:
Anton Schindling, Tübingen
Haik Porada, Leipzig "Quellen zur Kirchengeschichte der baltischen Lande im 16. und frühen 17. Jahrhundert in pommerschen Archiven"
Raimo Raag, Uppsala "Die christliche Terminologie und die Verbreitung christlicher Vornamen im Estnischen im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung"
Peteris Vanags, Riga "Die christliche Terminologie und die Verbreitung christlicher Vornamen im Lettischen im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung"
Vilis Kolms, Riga "Das Rigaer Gesangbuch von 1530 und die Liturgie der evangelisch-lutherischen Kirche in den baltischen Landen im 16. und 17. Jahrhundert"
Zusammenfassung und Schlussdiskussion "Entstehung der Konfessionen im Ostseeraum"
Quelle und URL zur Zitation dieses Beitrages <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2915>
Magnus v. Hirschheydt, Student, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Neuere Geschichte der Universität Tübingen, 5. Januar 2010