Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
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Vorgeschichte und erste Jahrzehnte des Reformierten Bundes
Der Weg aus der Diaspora
Die Vorgeschichte
Das deutsche Reformiertentum, das in der Zeit des ancien regime vielfach in Landeskirchen oder gesondert organisierten Kirchenkörpern bestanden hatte, war durch die staatliche Neuordnung des Wiener Kongresses von 1815 durchweg zu einer Diasporakirche geworden. Einzig das Fürstentum Lippe-Detmold war noch ein überwiegend reformiertes Bundesland. In Nassau, Preußen, der linksrheinischen bayerischen Pfalz, in Anhalt, Teilen von Hessen-Kassel, im großherzoglichen Rheinhessen und in Baden waren traditionelle Schwerpunktgebiete in schneller Folge in den Kirchenunionen von 1817-1822 aufgegangen.
In Bremen waren die Kirchen entkonfessionalisiert worden. Geschlossenere Kirchengebiete reformierten Gepräges bestanden außer in Lippe nur noch im Königreich Hannover in Ostfriesland und in Bentheim, im kurfürstlichen Niederhessen, in einzelnen Kreissynoden der preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland. Im übrigen gab es ein dünnes Netz von Einzelgemeinden in der niedersächsischen Konfoederation, in Lingen und im Umfeld von Bremen und Göttingen, im rechtsrheinischen Bayern, in den Hansestädten und in den preußischen Ostprovinzen.
Durchweg allzu bereitwillig hatten sich die deutschen Reformierten der Aufklärung hingegeben und darüber vielfach den Sinn für ihre Eigenart eingebüßt. Wo sie aber von vereinzelten Gruppen streng festgehalten wurde, wie im Bentheimischen und in Elberfeld im Agendenstreit, waren diese in die altreformierte bzw. niederländisch-reformierte Separation von den Landeskirchen gedrängt worden. Die Erweckungsbewegung hat dann in Wuppertal, im Siegerland und in Bremen, in Erlangen und in Lippe zu neuer und dauerhafter Kräftigung auch des reformierten Bewußtseins geführt. Seit freilich die Theologische Fakultät in Marburg 1822 ihre reformierte Bestimmtheit aufgegeben hatte, besaßen die deutschen Reformierten, die einst vier Universitäten und sechs illustre Gymnasien ihr eigen genannt hatten, keine eigene theologische Fakultät mehr.
Die ersten Anläufe zur Sammlung der Reformierten in Deutschland sind von der Diaspora ausgegangen, insbesondere von Erlangen aus, wo Christian Krafft als Pfarrer der deutsch-reformierten Gemeinde seit 1817 und als Extraordinarius in der Theologischen Fakultät seit 1818 einen tiefen Einfluß auf die fränkische Erweckungsbewegung entfaltet hatte. An seine Stelle sind zwei seiner Zöglinge getreten, sein Schwiegersohn Karl Goebel 1846 als Pfarrer der Gemeinde und August Ebrard, 1847 als erster Inhaber des jahrzehntelang einzigen reformierten Lehrstuhls aus Zürich nach Erlangen berufen. Ebrard hatte bereits 1843 mit einer reformierten Liturgik und dann 1847 mit seinem reformierten Kirchenbuch sich um die Wiederbelebung der reformierten Gottesdienstform verdient gemacht.
Ebrard ist es auch gewesen, der am Rande des 3. Evangelischen Kirchentags in Stuttgart am 13. September 1850 eine erste reformierte Konferenz von 30 Kirchentagsteilnehmern zusammengebracht hat, darunter auch Gäste aus der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich. Hier ist der Vorschlag eines verbindenden Korrespondenzorgans geäußert worden, was Ebrard selbst zum Jahresbeginn 1851 mit der »Reformierten Kirchenzeitung« in die Hand genommen hat.
Sie ist unter gelegentlich etwas wechselnden Titeln bis 1877 in 30 Jahrgängen in Erlangen erschienen, von den Erlangern, nacheinander 1851-1853 von Ebrard, 1853-1857 von Karl Goebel zusammen mit Ernst Staehelin, Basel, 1860 bis 1862 von Friedrich Birkner und 1862-1877 von Otto Thelemann redigiert worden, durch diesen seit 1863 dann von Detmold aus. Das bescheidene Monatsblatt hatte seine Schwerpunkte in Berichten und Nachrichten aus den reformierten Bereichen sowie in reformierten Beiträgen zur allgemeinen kirchlichen Diskussion und wurde zum wichtigsten Einheitsband der so verstreuten Reformierten.
Daneben sind aber auch die Gelegenheiten der Kirchentage zu weiteren Konferenzen der reformierten Teilnehmer genutzt worden, insbesondere wenn sich gastgebende Gemeinden am Orte fanden. Das war der Fall in Elberfeld 1851, Berlin 1853, Frankfurt am Main 1854 und Lübeck 1856. Bei der Frankfurter Konferenz am 25. September 1854 schlug der Breslauer Hofprediger Dr. J. F. A. Gillet einen dauerhafteren Zusammenschluß vor; man bildete ein Vorbereitungskomitee mit Gillet, Goebel, Erlangen, und Karl Sudhoff, Frankfurt. Dieses erarbeitete einen Statutenentwurf und lud im August 1855 im Zusammenhang des nach Halle ausgeschriebenen Kirchentags auf den 22. September 1855 ein zur konstituierenden Versammlung eines »Vereins zur Förderung und Verteidigung der Interessen der reformierten Konfession«. Doch die kurzfristige Absage dieses Kirchentags machte auch die Absicht einer solchen Vereinsgründung einstweilen zunichte.
So ist man in der Folgezeit nach 1856 auf dem Wege freier »Konferenzen reformierter Prediger, Ältester und Gemeindeglieder« fortgeschritten, dies aber ohne Anlehnung an die Kirchentage, in selbständigen Versammlungen. Diese haben zunächst jährlich stattgefunden, 1857 in Bremen, 1858 in Elberfeld und 1859 in Emden, immer also in reformierten Kerngebieten. Diese Konferenzen hatten auch schon eine festere Form mit einem gewählten Vorstand, der die Bezeichnung »Moderamen« führte. Ganz offensichtlich ist dieser Begriff, mit dem man in älterer Zeit ein kollegiales Synodalpräsidium zu bezeichnen pflegte, im Deutschland von 1857 von den reformierten Bayern übernommen worden, die bereits 1852 ihr Moderamen gebildet hatten, bevor dann erst 1856 ihre erste Synode zusammentreten konnte.
Diese Sammlungstendenzen um und nach 1850 gehören in den Gesamtzusammenhang der damaligen evangelischen Debatten um Union und Konfession. Sie zeigen, daß sich in Analogie und Folge der Kräftigung des lutherischen Bewußtseins in Deutschland ein entsprechender Prozeß auch auf reformierter Seite vollzog. In der Unionsdebatte hatte sich jetzt der Gedanke einer Konföderation der Bekenntnisse Bahn gebrochen, der auch das Lebensrecht und den Fortbestand des gemeindlichen Bekenntnisstandes in der Union anerkannte.
Die reformierten Sammlungstendenzen hatten zunächst ihre rührigsten Vertreter in der äußersten Diaspora, wo es um Untergang oder Überleben ging. Aber ebendort, in den preußischen Ostprovinzen Ostpreußen, Pommern und Sachsen, wie schon zuvor in den Unitätsgemeinden Posens, und jetzt auch in Bayern sind die verstreuten Gemeinden in diesem Jahrzehnt zu eigenen Superintendenturen und Kreissynoden gelangt und so in ihrem Bestand gesichert worden.
Ebendies hat das Interesse und auch die Beteiligung an den Konferenzen spürbar gebremst. Zudem bekamen sie in derselben Zeit eine gewichtige Konkurrenz für den engeren Bereich des Königreichs Hannover, wo erstmalig 1849 in Bremen und dann regelmäßig, mit einigen Unterbrechungen fast jährlich von 1855-1870 in Lingen die »Allgemeine Konferenz der Prediger und Kandidaten reformierter Konfession im Königreich Hannover« ins Leben getreten war.
Das war eine Pastoralkonferenz ganz im sonstigen Stile der Zeit, ohne weitere Beteiligung von Ältesten und Gemeindegliedern. Auch hier führt der Tagungsvorstand intern die Bezeichnung »Moderamen«, während aber die Einberufung und die Vertretung nach außen von einem Komitee wahrgenommen wird. Die Lingener Konferenz vereinte die kirchenregimentlich ja getrennten hannoverschen Gemeindeverbände, mit Einschluß der selbständigen niedersächsischen Konföderation.
Man bemühte sich um mehr Gemeinsamkeit im Gebrauch von Gottesdienstordnung, Katechismus und Gesangbuch, um eine eigene Zuständigkeit bei den Kandidatenexamina, um die Errichtung eines eigenen Lehrerseminars. Das Hauptziel aber war der Zusammenschluß zu einer einheitlichen reformierten Landeskirche. Dies ist freilich erst nach dem Anschluß Hannovers an Preußen in den Jahren 1881-1885 erreicht worden, in der «Evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover«, dann aber ohne die Konföderationsgemeinden.
Die Sache der allgemeinen Konferenz und die Redaktion der Reformierten Kirchenzeitung war mit dem Pfälzer Otto Thelemann 1863 von Erlangen nach Detmold übergesiedelt. Er hat dort noch 1863 die vierte und 1867 die fünfte Konferenz zusammengebracht. Aber das weitere und gemeinsame Interesse war sichtlich so stark geschwunden, daß er 1877 entmutigt auch die Schriftleitung der Kirchenzeitung niederlegte. In die Bresche ist 1877 der damals eben nach reformiert Elberfeld berufene Hesse Heinrich Calaminus gesprungen.
Damit tritt diese reformierte Großstadtgemeinde, mit damals sechs Pfarrstellen die größte im Rheinland, ja ganz Deutschlands, in den Vordergrund. Zugleich war sie der Vorort der großen, konfessionell nur kombinierten, nicht unierten Kreissynode, aus der erst 1878 die niederbergischen Gemeinden und 1896 auch Barmen ausgegliedert wurden. Um die engere Gemeinschaft und gemeinsame Verantwortung zu stärken, ist am 8. September 1877 hier ein »Reformierter Bund« begründet worden, zunächst für Elberfeld und Barmen, aber von Anfang an auch mit dem Gedanken an einen weiteren Zusammenschluß für ganz Deutschland. Calaminus war die treibende Kraft.
Und mit dem Jahresbeginn 1878 bis 1894 übernahm er auch die Schriftleitung der Reformierten Kirchenzeitung, die nun nach Elberfeld übersiedelte und als wöchentliches Kirchenblatt mit dem Gottesdienstplan des Wuppertals zugleich auch die Funktion eines Gemeindeblattes miterfüllte. Die publizistische Basis wurde 1880 verbreitert durch einen Reformierten Schriftenverein, der sich des Drucks reformierter Literatur und der evangelischen Kolportage tätig annahm.
Die Entstehung des Reformierten Bundes
1884 wurde aber auch anderwärts der Gedanke zu einem weitergreifenden Zusammenschluß wieder lebendig, jetzt nach der Begründung der Landeskirche in Hannover 1882 und unter dem überwältigenden Eindruck der Lutherfeiern von 1883. Die Anregung kam aus Pommern. Den Anlaß bot das Zwinglijahr 1884, das auch in vielen deutschen reformierten Gemeinden begangen worden war. Die Motoren wurden der unermüdliche August Ebrard, seit 1876 als Pastor der französisch-reformierten Gemeinde Erlangen Moderator der bayerischen Synode, und der Lipper Friedrich Brandes, seit 1856 Göttinger Pastor und 1878 Moderator der niedersächsischen Konföderation.
Man beabsichtigte zunächst den 1867 abgerissenen Faden der Konferenzen wieder aufzunehmen. Dann aber schalteten sich die Elberfelder ein und rieten zu festerem Zusammenschluß, wofür sie ihren Namen beisteuerten. Und so ergeht aus Göttingen und Elberfeld im April 1884, veröffentlicht in der Reformierten Kirchenzeitung vom 24. Mai 1884, ein Aufruf zu einer neuen Zusammenkunft von reformierten Pastoren, Ältesten und Gemeindegliedern auf den 13. August nach Marburg, »wo unser Zwingli auf deutschem Boden ein gutes Bekenntnis zu Ihm abgelegt hat, in welchem allein unser Heil steht, zu Jesu Christo, dem Gekreuzigten«.
Er richtet sich besonders an die Brüder in den Unionskirchen. Man ist der Hoffnung, »es werde die beabsichtigte und von dem Herrn erbetene Vereinigung zu einer dauernden werden und eine feste Gestalt gewinnen«. Die 16 Unterzeichner, darunter Brandes als Moderator der Konföderation und Ebrard als bayerischer Präses, bitten um weitere Beitrittserklärungen. Solche konnten dann in schneller Folge in der Kirchenzeitung auch veröffentlicht werden. Freilich maßte der Termin wegen der Wuppertaler Festwoche bald um eine Woche verschoben werden. Calaminus veröffentlichte vorab »Gedanken zu der Marburger Konferenz«, in denen er die Bekenntnisunterschiede der Gemeinden, besonders Bedeutung und Geltung des Heidelberger Katechismus und die herrschenden theologischen Differenzen in der Prädestinationslehre behutsam erwog.
Von besonderem Belang war, daß vom 24. Juni bis 3. Juli 1884 das 3. Weltkonzil der Presbyterian Alliance im irischen Belfast stattgefunden hatte. Brandes hatte an der Tagung teilgenommen und dort einen Bericht zur Lage des deutschen Reformiertentums erstattet. Aber er war dort nur in Person als Gast, nicht aber, wie es die Statuten des Reformierten Weltbundes vorsahen, Deputierter einer Mitgliedskirche gewesen. Offenbar unter solchen Eindrücken hat Brandes auf der Synode der niedersächsischen Konföderation am 8. August 1884 ein Votum zu einem engeren Zusammenschluß in Deutschland herbeigeführt.
In den Tagen des 19.-21. August 1884 ist dann in Marburg die »Sechste Konferenz reformierter Prediger, Ältesten und Gemeindeglieder« zusammengetreten mit 64 Teilnehmern, wozu noch 39 weitere schriftliches Einverständnis bekundet hatten. Vereinzelt gab es sogar eine kirchliche Autorisation, so von seiten der niedersächsischen Konföderation und der Gemeinden Elberfeld, Leer und Lissa. Gänzlich unvertreten waren nur die konsensusunierten Kirchen und die Gemeinden des Königreichs Sachsen.
Brandes sprach in seiner Eröffnungsansprache die Erwartung aus, daß zum inneren Band der Gemeinschaft ein äußeres hinzukommen solle. Reflex seiner Belfaster Eindrücke ist der Grundsatz: »Der zu schließende Bund dürfe kein solcher zwischen Privatpersonen bleiben, sondern müsse ein Bund der Kirchen und Gemeinden werden.« Sache der Konferenz sei es, dazu einen Weg zu finden. Darauf wählte man ein Konferenzmoderamen, en bloc mit P. Dr. Brandes, Göttingen, Professor Dr. Ebrard, Erlangen, P. Johann Hörnemann, Elberfeld, und Presbyter Albert Laue, Braunschweig, als Schatzmeister, denen die Versammlung noch P. Calaminus, Elberfeld, und P. Schindewolf, Marburg, beigesellte.
Das Kasseler Konsistorium hatte erst am 23. Juli die Abhaltung eines öffentlichen Gottesdienstes in der reformierten Stadt- und Universitätskirche in Marburg genehmigt, aber in der Erwartung, »daß sowohl in den Verhandlungen als auch im Gottesdienst alles vermieden wird, was den konfessionellen Frieden gefährden und den Charakter der reformierten Kirche in Hessen als einer Kirche Augsburgischen Bekenntnisses verdunkeln könnte«.
So konnten am 20. August dort Ebrard mit einer aufrüttelnden Predigt über Jes. 65, 4 und im Anschluß daran Calaminus im Saalbau neben der Universitätsbibliothek mit seinem Vortrag »Über die gegenwärtige Lage der reformierten Kirche in Deutschland und die Mittel zur Wahrung und Pflege der Güter derselben« der Versammlung ihre Aufgabe nahelegen. Calaminus vertritt eine von Brandes etwas abweichende Zielrichtung. »Das Notwendigste sei eine dauernde Verbindung von Gliedern der gesamten reformierten Kirche in Deutschland.
Ein Bund der Kirchen und Gemeinden sei vorläufig nicht erreichbar, wohl aber ein freier brüderlicher Bund zur Wahrung und Pflege der Güter der reformierten Kirche, welcher in einer periodisch wiederkehrenden Konferenz und deren ständigem geschäftsführenden Moderamen seinen Mittelpunkt habe. Der Bund müsse die Ordnungen und Eigentümlichkeiten der einzelnen Kirchen völlig bestehen lassen und nur das Gemeinsame erhalten und pflegen.« Das verdeutlicht nach Herkunft und in betonter Berücksichtigung die Lage und die Möglichkeiten des reformierten Elements in den Unionskirchen, zumal der preußischen.
Eben deswegen ist hier, nahegelegt auch durch die Vorgeschichte der bisherigen Konferenzen, von vornherein auch eine persönliche Mitgliedschaft ins Auge gefaßt. Das kirchlich föderative Konzept hingegen stammt sichtlich aus den Statuten der Presbyterian Alliance, wie denn überhaupt in der deutschen kirchlichen Nomenklatur der Begriff des Bundes seine Entsprechung im Allianzgedanken des 19. Jahrhunderts hat. Die Verbindung zum Reformierten Weltbund ist in Marburg durch die Anwesenheit des Weltbundsekretärs Professor Dr. G. W. Mathews, Quebec, und P. James Isaac Good, Philadelphia, von der Reformierten Kirche der USA repräsentiert. Der letztere ist später als Geschichtsschreiber des deutschen Reformiertentums hervorgetreten, in englischer Sprache.
Nachdem der Wille der Versammlung zu einem festeren Zusammenschluß festgestellt worden war, ist die Statutenberatung im Anschluß an den Vortrag von Calaminus, nach seiner Zielrichtung und an Hand eines Elberfelder Entwurfs vorgenommen worden. Eine längere Diskussion hat nur der grundlegende § 1 zur Bekenntnisfrage erfahren, ob die Nennung des Heidelberger Katechismus hier exklusiv als Ausschließung anderer reformierter Bekenntnisgrundlagen oder definitiv als des verpflichtenden Bekenntnisbuchs anzusehen sei.
Dies letztere betraf vor allem die niederhessischen Gemeinden, weil er bei ihnen nicht als Bekenntnisschrift angesehen wurde. Die übrigen Verhandlungen hatten es mehr mit technischen Fragen zu tun und konnten durch knappe Änderungen des Entwurfs schnell zur Übereinkunft gebracht werden. Am Schluß lenkte die Debatte noch einmal zu Grundsätzlicherem zurück, ob die herkömmliche Konferenz oder das neuere Bundesprinzip den Vorrang haben solle.
Man hat das in den Statuten einstweilen nebeneinander stehen lassen und die Entscheidung darüber späterer Beratung anheimgegeben. Schließlich wurde die erste ordentliche Versammlung des Bundes für 1885 in Elberfeld anberaumt, eine Unterstützungskasse für bedürftige Gemeinden begründet und eine Erleichterung des Pastorenaustausches über die landeskirchlichen Grenzen hinaus angeregt. Brandes berichtete noch über die Versuche, in Göttingen eine reformierte Professur zu erlangen. Dies hat sich 1885 die erste Synode von reformiert Hannover zueigen gemacht, aber erst 1921 erreichen können.
Das Ergebnis von Marburg waren die Statuten des Bundes und der Konferenz reformierter Prediger, Ältesten und Gemeindeglieder:
§1
Der Bund und dessen Konferenz stehen auf dem Grunde des Wortes Gottes Alten und Neuen Testamentes und erkennen die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche in Deutschland, insbesondere den Heidelberger Katechismus, als rechte und reine Darstellung der Schriftlehre an.
§2
Der Bund bezweckt die Wahrung und Pflege der Güter der reformierten Kirche in Deutschland in Lehre, Gottesdienst und Verfassung auf jedem, nach den Bekenntnisschriften und Ordnungen der einzelnen Kirchen, denen die Glieder des Bundes angehören, zulässigen Wege. Er enthält sich jeder Einmischung in die besonderen Angelegenheiten der einzelnen Kirchenkörper.
§3
Der Bund sucht seinen Zweck zu erreichen:
1. durch eine in jedem zweiten Jahre wiederkehrende Versammlung, welche sich durch Gebet, Gesang und Predigt erbaut, Vorträge über alle Gebiete des Kirchenwesens veranstaltet und Beschlüsse faßt, welche die Erbauung der reformierten Kirche betreffen,
2. durch Förderung der reformierten Literatur,
3. durch Unterstützung bedürftiger Gemeinden,
4. durch Förderung sonstiger Bestrebungen, welche dem Zwecke des Bundes dienen.
§4
Mitglied des Bundes und der Konferenz kann jede Kirche, Gemeinde oder jedes Kirchenglied werden, welche dem reformierten Bekenntnis zugetan sind, den Statuten zustimmen und nach Vermögen zu den Bedürfnissen des Bundes beitragen.
§5
Die Bedürfnisse des Bundes und der Konferenz werden aufgebracht durch einen bei jeder Versammlung zu den Kosten derselben zu entrichtenden beliebigen Beitrag, durch Zeichnungen und freiwillige Gaben.
§6
Auf jeder Versammlung wird am Schlusse derselben ein Moderamen gewählt, welche die Führung der Geschäfte in der laufenden Periode, die Ausführung der Beschlüsse und die Leitung der nächsten Konferenz übernimmt und tunlichst aus den verschiedenen Gebieten der reformierten Kirche zu wählen ist.
§7
Das Moderamen besteht: 1. aus dem Präses,
2. aus dem 1. Assessor und Stellvertreter des Präses,
3. aus dem Schriftführer (Scriba),
4. aus dem 2. Assessor und stellvertretenden Schriftführer, 5. aus dem Schatzmeister (Kassenführer). Der Vorsitzende hat die Leitung sämtlicher Geschäfte, die Verantwortlichkeit für Ausführung der Beschlüsse und den Vorsitz bei den Verhandlungen und Versammlungen.
Der 1. Assessor hat den Vorsitzenden zu vertreten und in den Angelegenheiten des Bundes zu beraten.
Der Schriftführer (Scriba) hat das Protokoll bei den Versammlungen abzufassen, die Korrespondenz, soweit sie nicht den einzelnen Ämtern zusteht, zu führen, die Drucksachen zu besorgen und die Zwecke des Bundes in der Presse zu vertreten.
Der 2. Assessor vertritt und unterstützt den Schriftführer.
Der Schatzmeister (Kassenführer) verwaltet die Kasse und die Liebesgaben für bedürftige Gemeinden und besorgt die ökonomischen Angelegenheiten der Versammlungen.
§8
Bei den Versammlungen wird ein Gottesdienst nach reformierter Weise, wenn möglich in einer Kirche, gehalten.
Die Verhandlungen werden nach einer noch zu entwerfenden Geschäftsordnung geführt.
Auf jeder Konferenz werden Zeit und Ort der nächsten bestimmt.
§9
Abänderungen der Statuten können nur mit einer Stimmenmehrheit von zwei Dritteln vorgenommen werden.
§ 10
Es wird erwartet, daß die Glieder des Bundes sich in allen Stücken von dem Geiste des Glaubens, des Friedens und der Liebe leiten lassen.
Gott allein die Ehre.
Der Eindruck einer gewissen Vorläufigkeit der Marburger Gründung hatte schon dort zu dem Beschluß geführt, sich bereits im folgenden Jahre und dann auf besonders geeignetem Boden, in Elberfeld, erneut zu versammeln. So ist dort vom 25.-27. August 1885 die statutenmäßige »erste Konferenz des Reformierten Bundes« mit 103 Teilnehmern zusammengetreten. An Gemeinden waren bisher nur Altona und Stapelmoor, an Einzelpersonen 180 formgerecht beigetreten.
Die Einladung an alle reformierten Gemeinden Deutschlands zum Beitritt war starken Reserven begegnet, am stärksten in Bremen und Hessen. Erst 1887 hat man die Bezeichnung »Hauptversammlung« angenommen, diese aber dann stets von Elberfeld 1885 an als der ersten gezählt.
Die Elberfelder Versammlung hat eine Geschäftsordnung für die Versammlungen beschlossen. Bei der Stimmrechtsregelung ist es bewußt unterlassen worden, die Mitglieder nach Körperschaften und Einzelpersonen unterschiedlich zu gewichten, »da erst die Zukunft darüber entscheiden werde, ob der Bund sich mehr als ein Brüderbund oder mehr als ein Kirchenbund gestalten werde«. Als Bundesorgan hat man statt einer Neugründung die bewährte, wenngleichen defizitäre Reformierte Kirchenzeitung übernommen.
Bei der Wiederwahl des Gros des Moderamens signalisiert der Rücktritt von P. Schindewolf, Marburg, die hessischen kirchenpolitischen Vorbehalte. Hingegen eröffnet die Abkehr von Dr. Adolf Zahn, Stuttgart, eine anhaltende theologische Kritik dieses strengen Prädestinatianers am weiteren Wege des Bundes. Bei den Nachwahlen rücken nach Maßgabe der Statuten Vertreter der reformierten Flächenkirchen in Ostfriesland und Lippe ins Moderamen ein. In Lippe hat schon 1885 mit einem Anlauf zu einem Beitritt der gesamten Landeskirche, seit 1886 mit regelmäßigen Konferenzen der Mitglieder und Freunde des Reformierten Bundes dieser zunächst seine breiteste kirchliche Basis gefunden.
Das Bundesleben bis zum 1. Weltkrieg
Auf dem in Marburg und Elberfeld gelegten Grunde hat sich das Bundesleben kontinuierlich entwickelt. An Hauptversammlungen vor dem 1. Weltkrieg tagten die
1. 25.-27. August 1885 in Elberfeld,
2. 25.-27. August 1887 in Detmold,
3. 3.- 5. September 1889 in Bentheim,
4. 25.-27. August 1891 in Barmen,
5. 22.-24. August 1893 in Emden,
6. 27.-29. August 1895 in Siegen,
7. 24.-26. August 1897 in Detmold,
8. 22.-24. August 1899 in Magdeburg,
9. 27.-29. August 1901 in Elberfeld,
10. 25.-27. August 1903 in Emden,
11. 29.-31. August 1905 in Herford,
12. 3.- 5. September 1907 in Odenkirchen,
13. 20.-22. April 1909 in Barmen,
14. 20.-24. August 1911 in Detmold,
15. 14.-18. September 1913 in Wesel.
Die Basis hat sich bald durch Regionalvereine und -konferenzen wie in Lippe und Rheinland-Westfalen und durch Lokalvereine in Wuppertal, Magdeburg, Berlin und Hannover verbreitert. Mit dem Anstieg von 234 Einzelmitgliedern in 1889 auf 1800 im Jahr 1900 erhellt, daß die persönliche Mitgliedschaft zunächst das Hauptgewicht ausmachte.
Dazu kamen noch Korporationen wie der ostfriesische Coetus, der Reformierte Schriftenverein und später der 1890 begründete Hugenottenverein. Der Beitritt von Gemeinden vollzog sich in sehr viel kleineren, aber kontinuierlichen Schritten: von 18 in 1889 über 40 in 1900 auf 88 in 1913. Ganz bescheiden blieb der Anteil von Kirchenverbänden, dies waren nur die Kreissynoden von Ost- und Westpreußen, die bayerische Synode, die niedersächsische Konföderation und das reformierte Konsistorium Straßburg mit seinen acht elsässischen Gemeinden.
Die 1885 erstrebte Mitgliedschaft im Reformierten Weltbund hat sich 1887 erledigt, weil der Reformierte Bund in seiner Frühzeit sehr viel mehr den Charakter einer Sammlungsbewegung als die Eigenschaft einer Kirche hatte, wie es die Statuten des Weltbundes erforderten. So blieb es bei einem Korrespondenzverhältnis, das aber auch die zeitweilige Mitgliedschaft von Brandes im europäischen Exekutivkomitee ermöglichte.
Die Hauptversammlungen haben sich in ihren Vorträgen und Verhandlungsgegenständen die allgemeinen und elementaren Themen christlichen und gemeindlichen Lebens ihrer Zeit, natürlich auch die eigenen reformierten Fragen und Aufgaben in biblischer, historischer und theologischer Grundlegung und in praktischer Form, durchweg auf gutem Niveau, vorgenommen und als Gemeindetage unter vielseitiger Beteiligung erörtert. Eine Störung erlitt nur die Bentheimer Tagung 1889 über den Thesen von Brandes über das Verhältnis zur Union. Besondere Fürsorge erfuhr von Anfang an die Hilfskasse für die bedürftigen Gemeinden, die bei der Begründung der Gemeinde Osnabrück, zur Stützung von Stuttgart und zum Kirchbau von Bützow sehr wirksam wurde.
1893 zog die Lage in Berlin besondere Aufmerksamkeit auf sich. 1889 war dort ein Zweigverein für Berlin und die Provinz Brandenburg begründet worden. Überdeutlich war vor allem in Berlin selbst der Schwund der reformierten Gemeinden, wo nur die französisch-reformierte Domgemeinde ihre traditionelle Sonderstellung, aber ohne Anschlußmöglichkeiten für deutsch-reformierte Zuzügler, behalten hatte. Sonst hatte die kleine reformierte Bethlehemsgemeinde böhmischer Herkunft unter P. Hapke noch den Heidelberger Katechismus in Gebrauch.
1893 hat der Zweigverein durch den Landtagsabgeordneten Louis Lückhoff beim Konsistorium den Notstand der Reformierten ausführlich dargetan, angemessene Vertretung im Kirchenregiment und das Recht auf Unterricht im Heidelberger Katechismus angemeldet. Auf der Emder Hauptversammlung 1893 hat Julius Müller, Berlin, dies in einem Referat ins allgemeine Bewußtsein erhoben. Demzufolge hat die Hauptversammlung die Einrichtung eines Zentralbüros für die Reformierte Kirche Deutschlands in Berlin unter Generalsekretär Julius Müller beschlossen und sogar die nun 1894 von Professor Dr. E. F. Karl Müller, Erlangen, übernommene Kirchenzeitung nach Berlin verlegt.
Doch diesem Unternehmen fehlte die rechte Basis. Das Generalsekretariat ist bald erloschen. Die Forderungen der kirchenregimentlichen Vertretung und nach Gelegenheit zum Katechismusunterricht wurden durch den neuberufenen Hofprediger Schniewind abgegolten. Der Berliner Zweigverein ist schon vor der Jahrhundertwende wieder eingegangen. Und die Kirchenzeitung behielt mit Müller und Johannes Stursberg 1897-1906 und Theodor Lang 1907-1918 zunächst weiterhin ihre Redaktion in Erlangen bzw. Nürnberg und ihren Verlagsort in Elberfeld. Schon 1885 war die Gottesdienstordnung, insbesondere in den Unionsgemeinden, als ein dringliches Erfordernis bezeichnet worden. Noch Ebrard hatte eine Neubearbeitung seines Kirchenbuchs in Angriff genommen. Dies ist fortgesetzt und vollendet worden 1889 durch Gerhard Goebel, Halle: »Reformiertes Kirchenbuch. Sammlung von in der reformierten Kirche eingeführten Kirchengebeten und Formularen.« Damit traten die Reformierten wohlvorbereitet ein in die preußische Agendenreform.
Ein anderer Notstand ergab sich im diakonischen Bereich, weil die Diakonissen reformierter Herkunft in den bestehenden Mutterhäusern vielfach ihrem Bekenntnis entfremdet wurden und die Gemeinden eine eigene Ausbildungsstätte nicht besaßen. 1894 wurde der Plan eines eigenen Mutterhauses vorgebracht, zuerst für Hannover, später für Lippe. 1899 ist hier von den Freunden des Bundes und des Sonntagsblattes das Detmolder Mutterhaus begründet worden. Der Reformierte Bund ist in den ersten Jahren mit erheblichen Zuschüssen hilfreich gewesen. Das Haus ist schnell aufgeblüht und eine Brunnenstube selbstlosen und energischen Dienstes in den Gemeinden geworden.
Die dringlichste und dauerhaft lebenswichtige Aufgabe aber betraf die Fürsorge für den Pastorennachwuchs. Nur Erlangen in der fernen Diaspora besaß einen Lehrstuhl, extra facultatem und ohne Promotionsrecht, der 1878-1889 von Friedrich Sieffert verwaltet wurde. Die schon lang anhaltenden Bemühungen um eine Professur in Göttingen sind vom preußischen Ministerium schließlich mit der Berufung Siefferts an die Landesfakultät in Bonn storniert worden. Damit wurde dies der bevorzugte Ort theologischer Graduierungen für den deutschen reformierten Bereich.
Erlangen erhielt 1892 mit Ernst Friedrich Karl Müller, einem Schüler Martin Kählers, neues Gewicht. Er hat mit seiner Symbolik von 1896, vielen grundgelehrten Artikeln in der Realenzyklopädie, seiner Ausgabe der reformierten Bekenntnisschriften von 1903, die Ebrards mißglückte Harmonia confessionum ersetzte, und mit der deutschsprachigen Calvinausgabe im Neukirchener Verlag den akademischen Part des deutschen Reformiertentums in diesen Jahrzehnten wahrgenommen und ihm gute Reputation verschafft. Wenn der Reformierte Bund in seinem ersten Halbjahrhundert einen allseits geachteten und vielfach verehrten Lehrer besaß, dann war das Müller, der in den Fächern des Neuen Testamentes, der historischen und systematischen Theologie gleichermaßen befähigt und ein großartiger Didaktiker war.
Bereits die Beratungen von 1885 hatten den Weg zur Begründung von Studentenkonvikten gewiesen. Das hat in Halle und seiner Domgemeinde den besten Boden gefunden, wo die Erinnerung an das einstige Gymnasium illustre, vor allem die Wirksamkeit von Johannes Wichelhaus und ein von Tholuck angeregtes studentisches Collegium reformatum unvergessen war. Dort empfand man auch eine starke Verantwortung für die verstreuten Gemeinden des Ostens. 1889 hat Domprediger Gerhard Goebel dort mit Kursen begonnen, 1890 wurde in einem Miethause ein Konvikt eröffnet, in dem alle drei Domprediger sich in die Übungen teilten. Der Reformierte Bund hat das Haus mit regelmäßigen Zuschüssen unterstützt.
1900 habilitierte sich dort Domprediger August Lang, ein Schüler Siefferts, für Kirchengeschichte und stiftete ein Gemeindeglied ein ansehnliches Kapital für einen hauptamtlichen Inspektor. Das wurde 1902 vorläufig, 1903 definitiv der Rheinländer Wilhelm Goeters, der sich 1909 ebenfalls habilitierte. 1912 konnte das Konvikt mit zwölf Studenten in der kleinen Klausstraße 12 sein eigenes Haus beziehen. 1889 hat es auch in Berlin einen Anlauf auf ein Konvikt gegeben, ebenfalls vom Reformierten Bund mehrfach mit Zuwendungen unterstützt. Doch ist dies Unternehmen, an dem sich zeitweise auch August Lang betätigte, über Kurse nie hinausgelangt und bald wieder eingegangen.
1909 ist dann auch für Erlangen ein Konviktsplan, im Jubiläumsjahr für ein »Calvin-Haus«, erörtert worden. Das ist erst 1919 mit vier Studenten ins Leben getreten, wobei der Calvinfonds des Reformierten Bundes, kirchliche Kollekten und eine Sammlung unter den Schülern Müllers zu dessen 25jährigem Amtsjubiläum die Mittel bereitstellten. Damit besaß die reformierte Theologenausbildung in Erlangen, Halle und auch in Bonn ihre Stützpunkte. Denn nach Siefferts Tod schaffte das Ministerium, um die immer wieder erneuerten Ansprüche in Göttingen abzuwenden, dort durch die Berufung von Goeters auf ein kirchengeschichtliches Extraordinariat einen gewissen Ersatz.
Mindestens ebenso dringlich erschien, im Zusammenhang allgemeiner Neuordnung des Vikariats als praktischer Ausbildung, das Bedürfnis eines Predigerseminars. Frühe Vorstöße von reformiert Hannover für den eigenen Bedarf waren mit drei Seminarplätzen im hessischen Hofgeismar abgegolten worden. 1892 ist der Gedanke dann in Elberfeld aufgenommen und mit einer großartigen Denkschrift von Nathanael Geyser bei den Gemeindekörperschaften zum Einrichtungsbeschluß eines reformierten Kandidatenstifts geführt worden, wofür 1897 die Gemeinde eine namhafte Schenkung erhielt. Doch das rheinische Konsistorium und der Berliner Oberkirchenrat benutzten jedes Argument, der selbstbewußten Gemeinde ihre Grenzen zu zeigen und eine konfessionelle Einrichtung, gar mit einer Mitsprache und einer Beschickung von außerhalb der Provinzial- und Landeskirche, zu unterbinden.
Erst 1904 ist mit der nimmermüden Gemeinde ein Kompromiß zustande gekommen in der Form eines einjährigen Sammelvikariats von vier Kandidaten unter der Leitung von Heinrich Calaminus 1904-1910. Nur gemeindeintern durfte der eingeführte Begriff des Kandidatenstifts benutzt werden. Die Aufnahme jedes nichtrheinischen Kandidaten war von der Genehmigung des Konsistoriums abhängig. Argwöhnisch wachten die Behörden über jeder weiteren Ausdehnung des Stifsbetriebs auf wissenschaftliche Fächer.
Geysers biblische Übungen waren noch unbedenklich. Aber der 1907 beantragten Anstellung von Joseph Bohatec als wissenschaftlichem Inspektor und Hilfsprediger der Gemeinde versagte das Kirchenregiment mit Formaleinwänden die Zustimmung. Gleichwohl ist er am Stift nachhaltig tätig geworden. Das schönste Zeugnis dessen sind die Elberfelder Calvinstudien im Jubiläumsjahr von 1909. Nach Habilitation in Bonn hat er dann in Wien seine angemessene Stelle gefunden. In Elberfeld war dann 1910-1920 Nathanael Geyser die Seele des Kandidatenstifts, dessen Ausbildungsqualität in einer lebendigen Großstadtgemeinde mit weiteren kompetenten Mitarbeitern keine Vergleiche zu scheuen brauchte.
Eben im Zusammenhang mit den Bemühungen um das Predigerseminar war stets auch eine Beteiligung des Reformierten Bundes im Gespräch. Um Vermögen bilden und besitzen zu können, auch kompetente Vertretungen wahrzunehmen, bedurfte er der Rechtsform. Das ist 1899 ins Auge gefaßt und 1904 mit einem Antrag von Calaminus auf Eintragung ins Vereinsregister beim Amtsgericht Elberfeld eröffnet worden. Die Hauptversammlung in Herford 1905 hat bei Bewahrung des bisherigen Zwecks und der erprobten Struktur eine formgerechte Satzung errichtet, in der der Verein nun seinen dauerhaften Namen erhalten hat: »Reformierter Bund für Deutschland«.
Dementsprechend ist er nach einem Unbedenklichkeitsbescheid der Kirchenbehörden, daß er keine besondere religiöse oder kirchliche Gesellschaft sei, sondern seine Mitglieder den Landeskirchen angehörten, am 25. Juni 1907 in das Vereinsregister eingetragen worden, mit Sitz in Elberfeld. Dadurch wird dies zum eigentlichen Zentrum, nicht zuletzt auch dadurch, daß 1911 Heinrich Calaminus anstelle von Brandes Moderator wird, während nun mit Johann Adam Heilmann, Göttingen, dessen Stellvertreter aus der Konföderation kommt.
Das Bundesleben nach dem 1. Weltkrieg
Seine wohl lebendigste und verheißungsvollste Zeit hat das deutsche Reformiertentum, aufbauend auf seiner 30jährigen Sammlung, in den Zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gehabt. Die Hauptversammlungen während des 1. Weltkriegs, 1915 für Halle und 1917 für Elberfeld vorgesehen, hatten ausfallen müssen. So beginnt nach Kriegsende die Reihe der Hauptversammlungen zunächst in schnellerer Folge mit der
16. 26.-28. August 1919 in Elberfeld,
17. 30. August-2. September 1920 in Bremen-Lebe,
18. 17.-20. Mai 1921 in Siegen,
19. 16.-19. September 1923 in Emden,
20. 2.-5. Juli 1925 in Duisburg-Meiderich,
21. 7.-10. Juni 1927 in Wuppertal-Barmen,
22. 22.-24. Mai 1929 in Bentheim,
23. 16.-19. Mai 1932 in Neukirchen bei Moers.
Der Neubeginn nach dem Kriege war begleitet von einem durchgehenden personellen Revirement. An die Stelle von Calaminus als Moderator trat 1919 dessen Schwiegersohn August Lang, zunächst auf zwei Jahre gewählt, dann durch Wiederwahlen bis 1934 im Amte. Assessor wurde nach Heilmann der Kuyperianer Wilhelm Kolfhaus noch als Elberfelder Pastor, der aber 1920 nach Vlotho überwechselte. Beide sind die deutsch-reformierten Träger ökumenischer Beziehungen geworden, insbesondere Lang in der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung. Im September 1930 hielt der Reformierte Weltbund in Wuppertal seine Tagung für den europäischen Kontinent. Das Kandidatenstift übernahm nach Geysers Tod 1920 der Ostfriese Lic. Hermann Hesse, der 1918 bis 1929 auch die Reformierte Kirchenzeitung redigierte, bis sie 1930 Kolfhaus übernahm.
Durch eine Satzungsänderung von 1920 ermöglichte der Bund auch die Mitgliedschaft von sieben Gemeinden in den östlichen Abtretungsgebieten, während das Verhältnis zum Straßburger Konsistorium sich auf persönliche Beziehungen reduzierte. 1921 begegnet ein Bundessiegel, das in einem Strahlenkreuz das aufgeschlagene Bibelbuch zeigte und mit Matth. 23, 11 an Bruderschaft und Dienst unter dem einzigen Herrn mahnte.
Das beherrschende Thema der Jahre 1918-1922, im damaligen Verfassungsinterim der deutschen Landeskirchen, war der Wunsch zu einem festeren kirchlichen Zusammenschluß, den vor allem Johann Victor Bredt, Marburg, unermüdlich propagierte und bis zu einem Marburger Konvent vom September 1921 vorantrieb. Diese Vision eines reformierten Kirchenbundes aber lief ins Leere, weil die Lippische Kirche ihrer lutherischen Minderheit Rechnung tragen mußte, reformiert Hannover nur wenige Konföderationsgemeinden gewinnen und nicht über die preußischen Staatsgrenzen ausgreifen konnte und auch eine stärkere Zusammenfassung in den preußischen Provinzen Sachsen und Brandenburg unerreichbar blieb.
Nutznießer dessen wurde der Reformierte Bund, der durch schnell ansteigenden Beitritt von Gemeinden ein immer stärker kirchliches Gepräge gewann. Die Linie bewegt sich von 88 Mitgliedsgemeinden im Jahre 1913 auf 129 in 1919 über 188 in 1923 und 193 in 1925 bis auf 2155 in 1927. Von diesen gehörten wohl mehr als die Hälfte zu den reformierten Landeskirchen (Hannover 63, Lippe 33 sowie zum sich bildenden Bund freier Gemeinden 11), die auch im Moderamen nun kollektiv vertreten waren. Doch weit mehr als ein Drittel standen in der preußischen Landeskirche (Westfalen 35, Rheinland 26, Ostprovinzen insgesamt 28). Für diese und ihre Verfassung wurde von Belang, daß die Siegener Hauptversammlung von 1922 energisch zur Bischofsfrage Front machte.
Auf Veranlassung der alten Freunde Roentgen und Good gewährte die Reformierte Kirche der USA aus Kollektengaben 1920 der deutschen Schwester durch den Reformierten Bund auf fünf Jahre eine großherzige Hilfe in erheblicher Höhe, die sog. Amerika-Spende. Dazu kamen niederländische namhafte Zuwendungen. Neben vielfältigen diakonischen Maßnahmen und Unterstützungen kleiner Gemeinden konnten damit die von der Inflation und dem Schwund des 1907 begründeten deutschen Calvinfonds betroffenen Ausbildungseinrichtungen erhalten werden.
Aus diesen, dem Reformierten Bund anvertrauten Mitteln im wesentlichen ist auch das Gehalt der 1920 vom Preußischen Ministerium für Göttingen bewilligten Honorarprofessur bestritten worden. Karl Barth hat hier 1921-1925 seine akademische Laufbahn und eine Schule zu bilden begonnen. Dazu gesellte sich das von Johann Adam Heilmann ins Leben gerufene Reformierte Studienhaus in Göttingen, das aber in der Trägerschaft der Gemeinde verblieb. Mit Barths Übergang nach Münster jedoch erloschen dann die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundes hier gänzlich.
Barth gewann auf den mit den Hauptversammlungen verbundenen Theologischen Ferienkursen bald weitreichende Wirkung. Diese waren von August Lang schon 1911 angeregt und 1913 erstmalig durchgeführt worden. 1920 und 1921 nahm man die Übung wieder auf. 1923 in Emden und 1925 in Meiderich hat Barth hier mit lebhaft diskutierten Vorträgen seine eigentlich kirchliche Resonanz gefunden. Der spürbare Bedarf und die lebhafte Beteiligung hat den Reformierten Bund dann zur Veranstaltung selbständiger Theologischer Wochen veranlaßt:
20.-23. Oktober 1925 in Elberfeld: Die Frage nach der Kirche,
18.-21. Oktober 1927 in Elberfeld: Das Problem des Wortes,
2.-4. April 1929 in Emden, in Trägerschaft von reformiert Hannover, über die Lehre von den Sakramenten,
13.-15. Oktober 1931 in Elberfeld: Die Frage nach dem Alten Testament.
Die Liste der Referenten zeigt, daß das theologische Potential erheblich angewachsen und qualitativ verstärkt worden war. Münster und Bonn waren die Städte der Graduierungen, Barths Schüler vermehrten sich. Eine jungreformierte Gymnasiasten- und Studentenarbeit wurde von Wilhelm August Langenohl und Wilhelm Goeters betrieben. Besonders am Niederrhein hatten die der Theologie Hermann Friedrich Kohlbrügges verpflichteten Freunde des Heidelberger Katechismus einen stattlichen Kreis gebildet. Das theologisch versierte Gemeindeglied war keine Seltenheit.
Der Erfolg schon der ersten Theologischen Woche hat den Reformierten Bund in Absprache mit der Gemeinde Elberfeld zu einer weiteren Initiative ermutigt, zumal die Lage in Göttingen unbefriedigend erschien, zur Begründung einer eigenen Theologischen Schule. Anläßlich der 2. Elberfelder Woche wurde am 18. Oktober 1927 einer einberufenen Versammlung der Plan vorgelegt, von dieser in einer Entschließung einstimmig gebilligt und ein engerer Wuppertaler Ausschuß und ein weiterer aus dem Reformierten Bund unter Beteiligung von reformiert Hannover und Lippe gebildet.
Ein Aufruf an die Bundesgemeinden wegen einer regelmäßigen Umlage fand ein erstes erfreuliches Echo. Mit der weisen Beschränkung auf die sprachlichen und theologischen Propädeutika, nicht Fakultätsersatz, sondern Fakultätsergänzung, wurde allen etwaigen kirchlichen und staatlichen Einwänden vorgebeugt. Vielmehr war angesichts des Rückgangs humanistischer Schulbildung diese Zielrichtung sogar im allgemeinen kirchlichen Interesse.
Am 24. April 1928 ist die Schule mit 18 Studenten feierlich eröffnet worden. Als Leiter hatte man den im Internatsschuldienst bereits bewährten Theologen Otto Weber gewonnen, der als Hilfsprediger der Gemeinde Elberfeld zugeordnet wurde. Die klassischen Sprachen unterrichtete Studienassessor Ferdinand Scholl, den 1931 Barths Schüler Heinrich Graffmann ersetzte. Als Unterrichtsräume wurden die Gemeindesäle benutzt, zuerst der in der Luisenstraße. Neben den Sprachen hatten Bibelkunde und Heidelberger Katechismus ihren festen Platz im Unterricht, was bald mit weiteren Angeboten nebenamtlicher Kräfte, so von Hermann Klugkist Hesse in Kirchengeschichte, ergänzt wurde.
1929 wurde trotz Wirtschaftskrise ein Mittags- und Abendtisch von der Gemeinde ermöglicht, während das angestrebte Konvikt unerreichbar blieb. 1932 gab der Reformierte Bund die Trägerschaft ab an einen rechtsfähigen eingetragenen Verein, mit Vorstand, Verwaltungsrat und Mitgliederversammlung, in dem der Bund ebenso wie die beiden Landeskirchen eine gewichtige Rolle behielten. Mitglieder des Vereins »Theologische Schule Elberfeld« konnten aber, wie beim Reformierten Bund, ebenfalls Gemeinden, Kirchen oder Synodalverbände und auch Einzelpersonen sein.
Zur gleichen Zeit hat auch das Kandidatenstift unter Hermann Hesse einen Aufschwung erlebt, weil das Koblenzer Konsistorium die alten Vorbehalte fallen gelassen und wegen des Mangels eines rheinischen Predigerseminars die Zahl der Kandidaten erhöht hatte. 1928 erteilte der Berliner Oberkirchenrat die förmliche Anerkennung als Predigerseminar und schloß am 6./18. Februar 1929 mit der Gemeinde über die Ausstattung und den Betrieb einen Vertrag, worin auch eine Kandidatenaufnahme aus anderen Landeskirchen eingeräumt war.
Die Einweihung in einem eigenen Hause Mäuerchen 8 a mit der wertvollen Pastoralbibliothek fand am 20. Januar 1929 für 13 Kandidaten statt. Direktor Hesse wurden Lic. Wilhelm Niesel, P. Karl Schmitz und Lic. Karl Reuter zugeordnet, was sowohl der praktischen als auch theologischen Ausbildung ein gutes Niveau garantierte. Freilich war hier der Reformierte Bund, anders als bei der Theologischen Schule, nicht selbst beteiligt. Und auch nur indirekt betroffen war er davon, daß reformiert Hannover 1931 endlich auch ein etatsmäßiges Ordinariat für reformierte Theologie in Göttingen erstritt.
1932 umfaßte der Reformierte Bund unter August Lang 247 Gemeinden und 300 Einzelmitglieder. Verglichen mit seinen Anfängen war er damit auf einem Wege von einer Sammlungsbewegung zu einem Kirchenbund schon ein bemerkenswertes Stück vorangerückt. Doch als Verein war er nicht eigentlich eine kirchliche Instanz, nicht einmal Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes. Das waren nur reformiert Hannover und Lippe als Landeskirchen.
Ja, er war jenem nicht einmal angegliedert, wie das seit 1930 der Bund freier reformierter Gemeinden, die erweiterte niedersächsische Konföderation, war. Wohl hatte der Bund in seiner Geschichte vielfach anregend, koordinierend und unterstützend gewirkt, aber die dauerhafte Verantwortung für alle reformierten Belange und Einrichtungen verblieb letztendlich bei den korporativen Mitgliedern. Dies erklärt, daß bei den Veränderungen von 1933 der Reformierte Bund als solcher zunächst ganz beiseite blieb, vielmehr die beiden reformierten Landeskirchen und in der preußischen Landeskirche wiederum der allseits anerkannte Vorort Elberfeld ihre Herausforderung erlebten.
J.F. Gerhard Goeters
Die Webseite reformiert-info.de ist ein digitales Angebot des Reformierten Bundes, Dachverband der etwa 1,5 Millionen reformierten Gemeindeglieder in Deutschland.