Auf Spurensuche in Barmen

Schwebende Impressionen bei einer Fahrt nach Wupperal

Blick auf Wuppertal Zentrum © Wilfried Baganz

Wilfried Baganz, einst Diakon in der DDR, macht sich von Neustrelitz aus auf den Weg nach Wuppertal-Barmen, wo 1934 die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet wurde.

Wo der Regen an den Kuppen der bewaldeten Berge wolkenreich verharrt, wie Trauben lange an den Rebstöcken verweilen, wo beschieferte Fachwerkhäuser grüßen, zwischen der nie enden wollenden Verstricktheit von Straßen, die wie Spinnennetze über kaum sichtbares felsiges Land ausgebreitet liegen, zieht sich hin im Tal flachbrüstig das Nass der Wupper.

Wo einst Vögel schwebten über das schmale Band silbrigen Wassers, trachtend nach Beute, stöhnt und ächzt heute das hängende technische Monstrum einer Einschienenbahn, besser bekannt als Wuppertaler Schwebebahn.

Eingeschränkt betrachtet unter dem Gesichtswinkel des Platzmangels einer explodierenden Großstadt, eingeklemmt in den Bergeshängen, doch wohl sehr ökonomisch und eine geniale Idee. Denn der Fluss will hier einfach nicht schiffbar werden, sprich nutzbar für Wasser- oder andere Fahrzeuge. So erfand man diese Art einer Stelzenbahn.

Wir erklimmen gerade die Stufen der „Zoo Station“ bei herrlichem Sonnenschein. Das Kiosk an seinem Fuße, wo es über gefühlte Jahrhunderte Gazetten und Rauchwaren zu kaufen gab, ist verwaist. Fahrkartenbillets konnte man dort auch einst erwerben, für einige Groschen, Pfennige, D-Mark und dann Euros. Ein Fahrkartenautomat spuckt heute für uns gegen Bezahlung tatsächlich Fahrscheine aus.

Wer erstmals so einen luftigen Bahnhof betritt, hat schon ein wenig Schwindelgefühl. Nicht wegen der Höhe der Station, die ist zwar beträchtlich aber erträglich. Schauder erregt der Anblick vom Ende des Perrons, heute eher als Bahnsteig bekannt. Dass da keine Schienen liegen, mag auch verwirren. Krass ist aber der Abbruch dieses ohnehin leeren „Schienenbettes“, so abgeschnitten gleichsam mit dem Ende der ganzen Bahnstation. Darunter die Wupper glitzernd und gurgelnd, doch unhörbar. Die Stadt ist laut. Zu laut um wirklich etwas zu hören. Mein Hirn ergänzt aber sekündlich das fehlende plätschernde Geräusch in meinem Kopf, welch eine Leistung.

Eine Gegenbahn rattert herein. Bremst. Der dreigliedrige Wagon kommt zum Stehen. Er schwankt leicht gegen die Bahnsteigkante und zurück, das wiederholt sich, immer mehr sich abschwächend. Tauben fliegen aufgescheucht empor, den umstrittenen Brotkrumen mit Lauten des Bedauerns verlassend.

Die Bahn entleert sich indes unbeeindruckt von den seitlichen Pendelbewegungen von ihren Passagieren und nimmt zugleich neue Fahrgäste in sich auf. Schon schließen sich die Türen und die an ihrer kopfüber hängende Schienen-Tram entfernt sich eiligst, verlässt hier den Flusslauf und biegt nach rechts in die Sonnborner Straße, wo sie zum Überflieger des Straßenverkehrs wird. Die Kurvenfliehkraft bringt den ganzen Zug in eine Schräglage und die Laufräder oben auf der Schiene ächzen dabei ein stählernes Klagelied in den wolkenlosen Himmel.

 Schwebebahn am Zoo-Stadion in Wuppertal

Fast gleichzeitig und unbemerkt schwebt nun unsere Gondel in die luftige Halle hinein, nimmt auch uns willig auf. Wir erstehen einen Platz. Die Türen schließen. Ich erfasse blitzschnell eine Haltestange. Der Anruck ist aber nur mäßig. Das Sprachengewirr ganzer Nationen erfüllt den Fahrgastraum. Direkt neben mir höre ich zwei sitzende junge Männer in lallenden Lauten sich sprachmalerisch verständigen, irgend eine arabische Sprache. Wie kann man aus so vielen LLLLLLL’s etwas heraushören was Sinn ergibt? Ich staune. Sie mögen knapp an die zwanzig Jahre jung sein. Herrliche schwarze krause Haare schmücken ihre Häupter.

An der Haltestange neben uns, unweit meiner Hand, wird diese von einer zarten Mädchenhand umschlossen. Bin ja mit dieser Hand quasi durchs verchromte Eisenrohr verbunden. Mein Blick macht sich nun an den Fingern fest. Die Fingernägel schwanken farblich zwischen tiefem Schwarz und einem Aubergine. Sie trägt neumodisch eine ebensolche schwarz finstere dicke Brille aus einem Plastegestell bestehend, wie man sie in den 1950-60 ziger Jahren zwangsläufig einmal trug in Ermangelung flotterer Modelle. Die Ohren hat sie verstöpselt mit weißen Miniohrhörern, aus denen ich so etwas wie Musik scheppern höre trotz allen Getümmels und Brummen der Elektromotoren über uns.

Der Blick aus dem Waggon ist dem neugierigen stehenden Fahrgast erschwert bzw. verwehrt. Die Oberlichter der Kabinenfenster sind fast komplett mit Reklamen überklebt, wie schade für den interessiert blickenden Touristen. Auch ich habe einen schwarz-auberginigen Fingernagel. Habe den Daumennagel am frühen Morgen noch schlaftrunken durch einen ungeschickten Griff gegen eine Stuhlkante nach außen abgeknickt.

Dumm von mir. Vergleiche ihn heimlich mit den Nägeln des jungen auch arabisch anmutenden Mädchens. Draußen huschen gerade die aufgewienerten Backsteinfabrikgebäude einer uralten Bayer-Fabrik vorbei, solche Industriegebäude haben Charme. Am Saum des gegenüberliegenden Berghanges erstreckt sich eine stuckreiche Häuserzeile die Straße entlang, typisch für diese Stadt, wo der letzte Krieg hier etwas übrig ließ.

Wer Jugendstil mag, kommt ganz auf seine Kosten. In der Fahrkabine sehe ich mindestens drei alte Frauen unweit neben uns stehen. Auch ältere Männer kann ich ausmachen. Gern würde ich ihnen meinen nicht vorhandenen Sitzplatz anbieten. Die jungen Leute, egal welchen weltweiten Ursprungs sie sind, sitzen beharrlich. Sie sind flinker als die Alten, also pfiffiger, wie man in alten Zeiten noch sagte. Sie haben Siegermentalität. Wer sitzt, ist immer ein Erster, also ein Sieger. Die alte Oma dort ist ohnehin schon morgen oder noch heute tot, was soll’s, wenn sie vorher noch einmal sitzen konnte? Auch ich bin mit meinen 62 Jahren ja fast ein alter Mann. Jugend-Stil neuzeitlich? Jetzt nur nicht daran denken, was wir unseren Kindern beigebracht haben, wir machen doch Urlaub.

Eine junge Frau mit Kinderwagen steigt zu bei einem der nächsten Halts. Wir bieten ihr neben dem Kinderwagen den Sitzplatz an, der gerade frei geworden ist. Sie verzichtet dennoch erfreut, bleibt lieber stehen. Wir erfreuen uns wiederum am Anblick des noch unschuldigen Kindes, es schläft bei allem Getöse und Gedröhne der Bahn und schert sich nicht um das Geschaukele.

Ganz anders mein Magen. Der meldet sich derart, dass er sich zum Zentralorgan in meinem Körper gar aufschwingt. Ein plötzliches Unwohlsein macht sich in meiner Bauchgegend immer breiter. Durch Missachtung versuche ich dieses Bauchgefühl zu verdrängen. Fahre ich doch schließlich nicht das erste Mal mit dieser Bahn, was soll das? Seekrankheit am Berghang? Wo mir doch auf keinem Schiff das bisher widerfuhr? Ich muss es akzeptieren. Nein, ich bin doch kein Schwächling. Wann kommt endlich zum Gotterbarmen, dieses Barmen – Wupperfeld, unsere Endstation heute? Wuppertal reckt sich aber gerade. Es hat heute an Überlänge noch dazugewonnen!

Die junge Frau mit dem Kinderwagen entsteigt dem Wagon im Stadtzentrum wie auch alle anderen Passagiere dieses ominösen Dampfers von Schwebebahn. Wir haben wohl gerade mal die Hälfte der Fahrt geschafft, registriert mein Unterbewusstsein, doch will ich das jetzt nicht vernehmen. Dafür kommt eine neue Kolonne von Mit- und Beifahrern reingerauscht. Jetzt heißt es durchhalten! Ah, da sehe ich noch den schönen Rathausturm! Lenke mich noch ein paar mal ab mit Blicken auf wunderschöne Kirchturmspitzen oder auf den unter uns liegenden Wasserlauf, vielleicht kommt doch mal ein Schiff?

Dabei fällt mir eine Animation ein vor Jahren im Technikmuseum am Geburtshaus von Friedrich Engels in Oberbarmen. Dort simulierte man eindrucksvoll die Verschmutzung der Wupper über die Jahrhunderte, ihren Missbrauch als Kloake für jegliche Industrie- und städtische Abwasser. Man stand auf einem Steg und unter einem sauste eine immer schlimmer werdende Brühe hindurch. Heute ist sie wieder glasklar die Wupper, vorbei die Zeit der giftlila Schaumkämme, wie wir sie in Bitterfeld oder bei Riesa damals bei uns sahen. Eine feine Leistung.

In Barmen-Wupperfeld angekommen geht es weiter zu Fuß mit dem Navigationssystem aus dem Auto. Dem ist die Fahrt mit der Bahn auch nicht bekommen. Es findet nicht den Fußgängermodus, ist genauso benommen wie ich. Wahrscheinlich sucht es den gefühlten fehlenden Flieger- oder Schiffsmodus. Wir suchen derweil aber die Gemarker Kirche, bzw. deren Reste.

Auch der Stadtteil Barmen wurde 1943 ohne Erbarmen dem Erdboden durch Bombenangriffe gleich gemacht, gleich Sodom und Gomorra. Das Navi führt uns nun doch gleich zu einer Kirche Nähe der Sternstraße. Sie ist verschlossen, der Name ist mir entfallen, ja auch unwichtig. Wozu braucht man denn auch verschlossene Gotteshäuser, sie sind zu nichts nütze? Wir tippeln nun weiter durch die Sterntrasse bis zu ihrem baldigen Ende, ohne das wirkliche prickelnde Sternenerlebnis. Ein älterer Herr, der gerade seinen Autoparkplatz sucht, schickt uns auf Anfrage zur eben schon passierten Kirche zurück, das soll die Gemarker nach seiner Ansicht sein.

Historische Ansicht der Gemarker Kirche um 1900                                              

Im Gegenzug verraten wir ihm auch sofort, wo er sein Auto geparkt hat, denn den ALDI-Parkplatz hatten wir gerade zuvor tangiert, wo er sein Auto vermutete. Umständlich erklärt er uns noch, wie man mit dem Auto um die beiden Häuserecken herum zu der von uns schon ausgemachten Nicht-Gemarker Kirche kommt. Als wir ihm erklären, wir würden zu Fuß dort hinlaufen, war er ohnehin völlig platt.

Das Navi zeigt uns aber nach vielen Versuchen eine neue Funktion an. Wir können uns zeigen lassen, wo wir uns befinden und es zeigt uns nicht ganz überraschend die Sternstraße, so wie es ohnehin auch auf den Schildern an den Häusern abzulesen ist. Der Wandermodus ist unabrufbar vom Gerät verschwunden. Also auf die eigene Nase vertrauen, die haben wir noch dabei bzw. den richtigen Riecher.

Eine weitere Publikumsbefragung bestätigt dann die richtig eingeschlagene Richtung. „Gemarker Kirche? Da müssen Sie hier die Fußgängerzone bis ans Ende laufen, da ist die dann wohl ganz rechts irgendwo“ behauptet eine ältere Frau mit einer noch älteren untergehakt bereits am Stock gehenden Dame. Die müssen es ja wohl wirklich wissen.

Jedoch ein „Genau weiß ich das aber nicht!“ fügt sie noch unsicher hinzu. Meine eigene Unzufriedenheit gipfelt jetzt in der etwas ungehaltenen Bemerkung „Na Sie sind wohl katholisch?“ und ich ziehe mir die leicht empörte Bemerkung zu „Was denken Sie, ich bin mein ganzes Leben lang schon evangelisch!“ Nun frage ich beschwichtigend noch nach dem relativ neuen Denkmal für das „Barmer Bekenntnis“.

Das kennt sie offenbar auch. Das sei auch dort in der Fußgängerzone, bekommen wir nun zu hören. Hunderte Meter weiter frage ich noch einmal ein altes Ehepaar nach dem Ort unserer Sehnsucht, da sich außer Geschäfthäusern nichts weiter zeigen will. Sie halten zunächst erst einmal ihre Taschen vor uns fest, wissen aber nichts von einer Gemarker Kirche, die müsse wenn überhaupt in Gemark sein, dies hier ist aber Barmen in Wuppertal und weisen mit den Häuptern in die Richtung unserer augenblicklichen Herkunft.

Hinweisschilder oder eine Citykarte sehen wir nirgendwo, der Wuppertaler hält zumindest hier in Barmen alles für gleich wichtig oder unwichtig in seiner Stadt. Vielleicht muss ich auch richtiger sagen der Barmer in Wuppertal? Hier werden nur Distanzen von Bedeutung erwähnt, z.B. auf dem Johannes-Rau-Platz. Schwerin 388 km, natürlich Luftlinie oder das noch wichtigere Beer Sheva nur schlappe 3173 km entfernt, pah!

Wegweiser Johannes- Rau-Platz
Nachdem meine Frau erneut das Interesse an einem Blumenladen gefunden hat, werfe ich einen Blick  auf einen weiteren Monumentalbau, vor 1945 zerstört und dann prächtig wieder aufgebaut. Doch gleich daneben erweckt ein dort beigefügtes Monsterdenkmal eines Fürst Bismarck mein Interesse. Danach landen wir vorbei am gigantischen Barmer Rathaus in einem Döner-Kebab um erst einmal den aufgekommenen Hunger zu stillen. Merhaba und Teschek ür ederem! Hos schakal. Hat prima geschmeckt.

Dem Bismarck hatte man übrigens eine eherne wunderschöne Germania zu Füßen gesetzt, sie macht das Denkmal etwas erträglicher von seiner Wucht. An ihren Rundungen haben offenbar viele Passanten ihren Gefallen, das sieht man an den blanken Stellen des Metalls deutlich, warum auch nicht, da wird selbst der Petrus im Petersdom etwas neidisch bei dem Anblick und nicht nur feuchte Augen bekommen. Auch hat man die Spuren des Krieges an dem Denkmal nicht völlig getilgt, es trägt Zeichen der Verwundung von Bombensplittern im roten Granitsockel. Gut so, denn Denkmal kann auch Mahnmal sein, die Wuppertaler wissen darum.

Nachdem wir einen C&A erfolgreich zwischendurch geplündert haben um unseren kleinen Frust des Suchens noch mehr zu vergessen, entdecken wir endlich rechts in einer kurzen Distanz den Kirchturm der Gemarker Kirche. Die Kirche, in der ein kleines Häuflein aufrechter evangelischer Christen den Versuch unternahm, den mehrheitlichen Nazichristen zu widersprechen, wenn auch beinahe zaghaft so doch auch sehr mutig schon im Jahre 1934, also ein Jahr nach der sogenannten Machtergreifung eines Adolf Hitlers.

 

Blick auf die Gemarker Kirche 2011                                

Gedenktafeln am Turm  

Wie oft hatte ich diese Thesen im Konfirmandenunterricht oder in der Jungen Gemeinde oder in Hauskreisen besprochen? Damals in der DDR, in meiner Diakonen-Funktion als kirchlicher Mitarbeiter. Vom Mut der evangelischen Christen im Nationalsozialismus, einer alles beherrschenden Ideologie zu widerstehen, konnten wir, nein mussten wir doch auch Kraft tanken können! Und die selbstherrlichen Herrscher des angeblichen „Sozialismus“ konnten ja nicht einschreiten gegen diese Thesen, da sie sich ja auch als die eigentlichen Gegner des Faschismus verstanden haben wollten und feierten.

Natürlich hatte ich schon per Internet alle Fakten der Zerstörung der Gemarker Kirche und deren fragmentarischen Wiederaufbau nach 1945 mir angeeignet. Doch es war ein tiefes inneres Gefühl plötzlich vor dem Gebäude zu stehen mit der Gedenktafel am Kirchenschiff  und die 1. These zu lesen „Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben wie im Sterben vertrauen und zu gehorchen haben.“ – nicht Hitler! 

Das ist wie der Schlussakkord bei einer Symphonie, wo das letzte „Ta-ta! Ta-ta“ uns noch einmal seelisch umreißt. Das alles hat es wirklich gegeben! Hier an dieser Stelle! Du hast nicht nur dieses unmenschliche DDR-System überlebt, nein, du stehst jetzt hier als freier Mensch, beinah wie ungläubig und siehst was du verkündet hast real vor Augen.
Das Portal neben der Gedenktafel am Fuß des Kirchturmes ist nicht offen, obwohl man mit einem Schild „Kirche geöffnet“ wirbt.

Durch ein Café kann man die Kirche betreten, erfahren wir auf einem nächsten Hinweisschild. Schon etwas merkwürdig für so einen denkwürdigen Ort. Durch den Kaffeedunst und das Gekicher zahlreicher rüstiger Rentnerinnen entweihe ich meine kleine aufgekommene heilige Gänsehaut. Im Anbau der vorgeblendeten Lokalität finden wir auch Einlass ins eigentliche Kirchenschiff.

Kirchenschiff der Gemarker Kirche 2011

Moderne schlägt einem kühl entgegen aber auch gekonnte Erinnerungsarchitektur. Hier gibt es nichts zu beklagen wegen der Zerstörung einer wunderschönen Kirche. Hier ist die verloren gegangene menschliche Vernunft oder in diesem Fall eher der Verlust aller christlichen Glaubenswerte für mehr als ein Jahrzehnt zu beweinen, trotz dieser wenigen Mutigen. In Sodom sollten nur 10 treue Gläubige die Stadt retten können vor Verwüstung, in Barmen war eine ganze Synode zu wenig für ein verirrtes irres Volk.

Neben dem Café gibt es auch einen kleinen „Eine-Welt-Laden“, wie er bei uns hier genannt wird. Dort frage ich nach dem Standpunkt des Denkmales zum „Barmer Bekenntnis“. Nach der Beschreibung des ehrenamtlich tätigen Verkäufers müssen wir daran wohl schon vorbeigelaufen sein, peinlich. In der Tat. Als wir das kurze Stück hin zur Fußgängerzone wieder durchschreiten steht es da auf einmal, umwuselt und verdeckt von den zahlreichen Passanten im Treiben dieser frühen nachmittäglichen Stunde. Nach dem gigantischen Bismark konnte ich offenbar nicht so klein denken und war nur auf Großes aus, habe es übersehen auch Kerstin meine Frau.

Erst als ich interessiert meine Kamera auf das Objekt der Begierde richte und fotografiere bleiben auch zwei drei Leute stehen und überlegen vielleicht, wie oft sie hier schon vorbeigelaufen sein mögen, ohne es wirklich zu sehen.

Dennoch ist dieses beinahe winzige Denkmal eine riesige Übertreibung und trotzdem sehr wirklich. Warum? Zählt man die dargestellten jubelnden „Deutschen Christen“ in Hitlergruß-Pose und die wenigen „Neinsager“ bzw. „Bekenner“ zum wahren Glauben einmal durch, dann ist das sehr schmeichelhaft im Verhältnis zur damaligen Wirklichkeit dargestellt. Die Künstlerin konnte natürlich unmöglich dieses Missverhältnis real darstellen. Man sagt allgemein wären im Hitlerreich 3 Prozent der Bevölkerung überhaupt nur in irgend einer Art von Widerstand gewesen.

Die Deutschen Christen
als Nazi-Jubelmasse 
                     

Das kleine Häuflein aufrechter Christen
mit der Bibel

Wie viele evangelische Christen aktive Faschisten oder auch nur Mitläufer waren, wer kann es ermessen? Wie sieht es heute aus mit dem Engagement in der Politik? Dabei denke ich nicht an Parteizugehörigkeiten sondern an waltendem Sachverstand, der mutig einzubringen ist. Am Monumentalbau, ein paar hundert Meter zuvor mit dem Bismarck, ist mir auch eine Erinnerungstafel an die Geschwister Scholl nicht entgangen, der ganze Platz ist nach ihnen benannt. In meiner Heimatstadt Neustrelitz ging ich ein paar Jahre in die „Geschwister Scholl Oberschule“, ohne je zu erfahren, was diese beiden Antifaschisten taten und vor allem aus welcher Überzeugung, nämlich aus tiefem christlichen Glauben.

Ganz sicher hat diese Stadt an der Wupper noch mehr Erinnerungspotential, ich erzähle hier nur von dem beinahe fast zufällig gesehenem an diesem herrlichen Oktobertag in dieser pulsierenden deutschen Metropole.

Auf der Rückfahrt Richtung Vohwinkel bleibt mir eine wohl auch arabisch stämmige junge Frau in der Erinnerung haften. Im besten Deutsch kaut sie mir ein Ohr ab, indem sie ständig etwas in ihr Unterwegstelefon hineinblökend quasselt, während ich das Gesehene noch auf mich einwirken lassen will. Wie immer geht es auch bei ihr um die anderen abgerissenen Typen.

„Weißt du eigentlich mit was für einer abgefuckten Tussi mein Ex jetzt rumläuft? Und wie sie sich schminkt! Die sieht so was von Scheiße aus, weißt Du?…“ Sie selber ist in der Tat feinstens präpariert. Ihre Wimpern sind eine Augenweide, sie könnte damit ihr ganzes Gesicht beschatten. Ihr Ausstieg an einer der nächsten Stationen ist wie eine Erlösung und zugleich Befreiungsschlag. Den Rest sitzen wir nun sogar und schauen auf Wupper und vorbeiziehende Stadtviertel.

Wieder im Zooviertel angekommen betreten wir das „Schweriner Ufer“.
Wuppertal verbindet eine Städtepartnerschaft mit der mecklenburgisch-vorpommerschen Hauptstadt, das Schild in Barmen wies schon darauf hin. Dort wurde 1976 unsere Tochter Sunhild-Juliane geboren ganz in der Nähe des Ufers vom Schweriner See. Was für ein geschichtlicher Bogen sich doch manchmal spannt.
Am Schweriner Ufer
Unsere Tochter wohnt nämlich heute in diesem Wuppertaler Zooviertel mit Mann und Kind. Deshalb sind wir eigentlich wieder mal hierher gekommen, um unseren kleinen Kronprinzen und Neuwuppertaler Ferdinand zu besuchen und um mit ihm den frisch restaurierten Märchenbrunnen neben den herrlichen Jugendstilfassaden zu umrunden.                 

Demutsarchitektur der Gemarker Kirche in Barmen –
Blick durch eine Milchglasscheibe ins Innere

Wir evangelischen Christen verdanken auch diesem kleinen Häuflein Aufrechter, die sich in der schwärzesten Geschichte Deutschlands, dort in Barmen versammelten, zu einer Synode mit einem mutigen Bekenntnis gegen den Einfluss einer alles beherrschenden Ideologie des totalitären Staates, unser Heute und wenn Gott will auch die Zukunft.

Für meine Arbeit als Diakon in der DDR waren die Barmer Thesen ein Eckstein, wo ich selber Halt fand und auch weiter Halt vermitteln konnte.

In dem Stadtteil Barmen hat man den mutigen Synodalen ein ewiges Andenken bewahrt und es durch dieses Kleinod der Wuppertaler Künstlerin Ulle Hees wirkungsvoll für immer ins Bild gesetzt.


Text und Fotos: Wilfried Baganz, Neustrelitz