Predigt im Advent: ''Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!'' (Jes 64,1)

Ein urmenschlicher Schrei


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von Michael Trowitzsch, Jena

Mit freundlicher Genehmigung des Autors Prof. Dr. Michael Trowitzsch und des Wartburg Verlags entnommen aus:
Michael Trowitzsch: Trost und Trotz. Evangelische Predigten, Weimar 2012 (Wartburg Verlag), 128 S.; ISBN 978-3-86160-260-6 (erscheint im Dezember 2012).

Predigttext:
Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! (Jes 64, 1)

Schriftlesungen: Phil 2, 5–11 und Offenbarung des Johannes 21,3–5

Ein urmenschlicher Schrei

Der Predigttext heute, liebe Gemeinde am zweiten Adventssonntag – es ist nur ein einziger Satz. Es ist im Grunde ein Aufschrei, der prophetische Schrei des Alten Testaments. Eine maßlose Bitte an Gott bricht auf.

"Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!"

Diesen Schrei, das urmenschliche Seufzen, diese drängende Bitte – du kennst das. In dieser oder jener Form ist es dir vertraut. Du trägst Ähnliches ein Leben lang im Innern in dir. Du trägst es in der Seele wie aufbewahrt und gespeichert. Mag es vielleicht dein Leben erschüttert haben, vereinzelt oder häufig: dieses den Atem aufbrechende Seufzen, dieser Ruf in die Ferne, die Hilflosigkeit. Vielleicht kannst du manche Stunden deines Lebens nicht mehr vergessen, in denen du so oder so ähnlich gerufen hast oder in denen du zu schwach warst oder zu erstarrt oder zu ohnmächtig, um überhaupt noch irgend etwas zu sagen. „Ach, es geht nicht mehr“, so war vielleicht dein Gefühl, „ich kann nicht mehr, ich bin am Ende. Hilf mir, Gott! Hilf mir endlich. Niemand sonst kann es. Und hilf dem Menschen dort, den ich liebhabe. Warum muß er soviel leiden? Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! Es ist ein Weinen in der Welt / Als ob der liebe Gott gestorben wär’…“

Gott sei Dank, das ist nicht das einzige Lebensgefühl. Viel anderes gibt es in deinem Leben auch. Es ist auch ein Lachen in der Welt. Es gab und es gibt auch das wunderbar Leichte und Unbeschwerte, die Fröhlichkeit, die Feste, Weihnachtsfeste, Geburtstage, Hochzeiten… Du trägst auch das alles noch in dir, auch das Wispern der Liebe an deinem Ohr, die zärtlichen Worte. Vieles klingt nach und ist da. „Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen …“ Musik klingt in dir nach und ist da, vielleicht ein Leben lang, „Yesterday“, Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart.

Das Lachen hier und das Weinen dort, die Gefühle, die Gedanken, die Klänge und Farben, die Träume, die Erfüllungen – das gehört miteinander zu deinem Leben. Das bist du – das alles zusammen: was du geworden bist bis heute und was du einmal warst. Du bist auch deine Vergangenheit. Zusätzlich zu deinem Erwachsensein bist du immer noch auch das kleine Mädchen und der kleine Junge. Es ist ja alles eingeschrieben in deinen Leib und in deine Seele. Du verfügst ja über ein rätselhaftes Körpergedächtnis und ein nicht weniger rätselhaftes Seelengedächtnis. Mag vieles verdrängt sein und verschüttet, die tiefe Vergangenheit, die frühe Kindheit. Es ist aber noch da, irgendwo innen, schwer zu sagen, wo. Wir sagen: in der Seele. Vielleicht träumst du gelegentlich davon. Du bist es eben alles. Du bist nicht weniger als das Ganze. Es wird dann einmal im ganzen abgeschlossen sein: dein vergängliches, unendlich vielfältiges Leben in der Fülle seiner Vergangenheiten. Aber wo bleibt es dann? Wo bleibst du?

Was wird dann? Was wird aus dir, aus diesem ganzen in seinen so verschiedenen Höhen und Tiefen gelebten, aus unendlich vielen Momenten zusammengesetzten und verschmolzenen Leben? Kann man das wissen? Ja. Der christliche Glaube weiß, was dann geschieht. In der unbändigen Kraft der biblischen Texte kann man das auch heute mit Gewißheit sagen – in der Vollmacht unserer Epistellesung, unserer Evangeliumslesung und vieler anderer neutestamentlicher Texte. Was geschieht dann mit dir, wenn dein Leben abgeschlossen ist? Etwas Geheimnisvolles geschieht, für die Lebenden nicht sichtbar, etwas Zauberisches, Wunderbares, ein noch ganz anderer Advent, eine noch ganz andere ergreifende Ankunft. Dir tritt dann Jesus Christus entgegen. Der verklärte Herr kommt auf dich zu.

Wie die Jünger es konnten, so wirst auch du ihn zweifellos erkennen können, an seinen Wunden. „Seht meine Hände und meine Füße!“, wird er sagen. „Ich bin es selber.“ Er, der Sohn Gottes, trägt es auch alles in sich, seine ganze Vergangenheit, Bethlehem und den Klang der Bergpredigt und die gellenden Hilferufe, die tief in sein Herz drangen. Die Marterung wohnt noch in ihm, die Kreuzigung, die Gottverlassenheit, sein eigener himmelschreiender Ruf: „Ach, dass du den Himmel zerrissest!“ Der Ruf hatte in seinem Munde aber noch furchtbarer geklungen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist alles irgendwie noch da, aufbewahrt als die Fülle seiner Vergangenheit. Wenn er dir entgegentritt, dann trägt er es alles an sich, in seinen Wundmalen, in seinem Leib, in seiner Seele – aber verklärt, aber verherrlicht, aber in ewigem Licht.

Ja, so kommt der auferstandene, verklärte Gekreuzigte dann auf dich zu, behutsam, ergreifend, adventlich, nicht wahrnehmbar für die Lebenden. Entscheidendes ist längst geschehen. Er hat ja längst den Himmel zerrissen und ist herabgefahren. Er hat ja dem prophetischen Schrei des Alten Testaments schon geantwortet, die ungeheure Bitte an Gott bereits erfüllt. Wunderbar maßlos hat er seinerseits diese Bitte erfüllt, unbegreiflich, unfassbar. „Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war / und was sie geprophezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit.“ Ja, es ist erfüllt in Herrlichkeit, in seiner ersten Ankunft, seinem ersten Advent, seiner Geburt, seinem Leben, Sterben und Auferstehen. „Der Himmel bricht auf“: Er ist herabgefahren im Wunder der Weihnacht und ist ein hilfloses Kind geworden und ist nach ganz unten gegangen, in die Tiefe von Golgatha, als die Sonne ihren Schein verlor, ist hineingegangen in die stechende Gottverlassenheit und hinabgestiegen in das Reich des Todes und niedergefahren zur Hölle, ins Herz der Finsternis, in den Abgrund, und hat die Hölle in Besitz genommen und ihr Feuer gelöscht und ihre Finsternis in Ewigkeit hell gemacht. Er hat sich selbst zerreißen lassen – für uns. Wer kann das ermessen? Ja, er hat eine Schwäche, er kann nur groß und überschwenglich lieben. Viel tiefer herab als jemals gedacht ist er gekommen. Viel mehr als jemals ersehnt ist geschehen, wunderbar maßlos erfüllt das prophetische Gebet, ohne alle Grenzen, über und über – erfüllt in Abgründigkeit, erfüllt in überwältigender, österlicher Herrlichkeit. Dieser Jesus Christus ist es, der auf dich zukommen wird, wenn dein Leben abgeschlossen ist. „Ich bin es selber“, wird er sagen. Ehre sei dir, Herre!

Was wird also aus dir? Der Herr des Himmels, der siegreiche Herr über den Abgrund – er tritt dann unmittelbar deinem Leben entgegen. Unmittelbar steht die Liebe vor dir: in unbändiger göttlicher Vollmacht, die dem alttestamentlichen Schrei geantwortet, die die Sperre des Himmels zerrissen, Schloss und Riegel weggerissen hat, die herabgefahren ist in die finsterste Tiefe, für uns, für dich. Die vollkommene Liebe – sie kommt dann dereinst auf dich zu, behutsam und unbändig zugleich.

Und dann? Diese Liebe, die Liebe bis zum Ende und ohne Maß, wird dein Leben nicht nur anschauen. Das ist ja viel zu wenig. Der Gottessohn – er kann wirklich nur groß lieben. Das Kleinliche liegt ihm nicht. Was wird also? Dein Leben soll gleich werden seinem verklärten Leben. Er beansprucht mit seiner Liebe dein ganzes Leben von Anfang bis zum Ende, jeden Moment. Er meint ja dich, unverwechselbar und eigentümlich dich: in der Fülle deiner Vergangenheiten, dein ganzes in den Höhen und Tiefen, in den Farben und Klängen, in den unendlich vielen Augenblicken gelebtes Leben.

Die vollkommene Liebe schaut das dann nicht nur an, sondern, seltsam zu sagen, sie bringt sich überall dort ein. Dein abgeschlossenes Leben – es sind unendlich viele kleine und große Räume. Es ist, als ob er dann herrschaftlich selber eintritt in die Räume deines Lebens. Er gibt sich in dein vergangenes Leben machtvoll hinein. Denn er ist der souveräne Herr der Zeit, der Gebieter über die Vergangenheiten, der schöpferische Gott, der Hüter der Verwandlungen zum Guten hin. Vor ihm, wie gesammelt, liegt die ganze Spanne, die Strecke deines Lebens vom Anfang bis zum Ende. Er sucht jeden Moment auf. Er holt es alles vor. Ja, es ist dann alles Vergangenheit. Er handelt aber als der machtvolle Gebieter auch über deine Vergangenheiten. Er bezieht sich dann liebevoll auf deine Lebenssituationen. Er sagt: „Siehe! Ich mache alles neu!“ Und er vermag das auch, er tut es auch. Er sagt: „Ich werde die Tränen abwischen von deinen Augen, die Tränen deines Lebens. Der Tod wird nicht mehr sein – noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr in deinem Leben sein!“

Unfassbar, unvorstellbar: Die Liebe tritt dann überall hinzu zur Fülle des Vergangenen. Ausnahmslos alles, was du einmal warst, erfasst sie: dich als Kind, dich als Heranwachsenden, dich als Erwachsenen. Deinem in sich so unendlich vielfältigen Leben fügt sie sich hinzu, all deinen Lebensmomente, den Stunden und Augenblicken. Ganz einfach: dein Leben soll gleich werden seinem verklärten Leben. Kannst du dir das vorstellen, dass jeder Moment deiner Vergangenheit schön sein wird und gut und liebevoll? Allem, was du warst, begegnet verwandelnd die maßlose Erfüllung, den Freuden und den Schmerzen, den Erfahrungen des großen und des kleinen Glücks, aber auch den Enttäuschungen und bitteren Niederlagen. Der Geschichte deiner Schuld – schreibt sich die Vergebung der Sünden ein. Der Trost schreibt sich ein – deinem Schluchzen und dem Schrei „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“

„Siehe, ich mache alles neu!“, sagt er. Dann öffnet er die Türen zu deinen Inneren, ganz langsam und ganz behutsam – keine Angst! – … öffnet er die vielen Türen zu einer ganz inneren Tiefe. Du musst nicht erschrecken. Was ist da hinter einer der letzten Türen? Da sitzt das kleine Mädchen, das du warst, da sitzt es allein und verlassen und weint. Es braucht so viel Liebe! Er, der starke Hüter der Liebe, nimmt es in den Arm, er tröstet es. Die Tränen werden abgewischt. Sagen wir: Das bunte Kleid leuchtet neu. Sagen wir: Die Zöpfe werden neu geflochten. Er nimmt die schmutzige kleine Hand. Die Liebe selber nimmt das kleine Mädchen fürsorglich an die Hand. Die Liebe wird es beschützen. Es ist alles gut, kleines Mädchen! In Ewigkeit. Keine Angst!

Und da sitzt der kleine Junge in einem oberen Stockwerk in dem fremden Krankenhaus, wo er operiert werden soll, und er schaut aus dem Fenster hinunter und sieht gerade noch seine Mutter, die ihn gebracht hat, wie sie um die Straßenecke biegt und dann nicht mehr da ist. Dann nimmt er, der Herr der Zeit, der Hüter der Verwandlungen, den kleinen Jungen in den Arm und tröstet ihn und führt ihn nach Hause, ganz nach Hause, dorthin, wo eine ganz frühe Kindheit leuchtet, wo Gott selber Vater und Mutter ist, ein wunderbarer Vater, eine ganz und gar liebevolle Mutter. „Mein lieber Junge!“, wird es dann heißen. Es ist dann gut. Für immer. Keine Angst!

Das ist es, was aus deinem Leben wird: ein Leben, ähnlich dem verklärten Leben Christi. Kann man überhaupt mehr wollen? Dann wird ein unbändiges Lachen in der Welt sein. „Dann wirst du sein wie ein Träumender. Dann wird dein Mund voll Lachens und deine Zunge voll Rühmens sein.“ –

Liebe Gemeinde am zweiten Adventssonntag! Wir wissen von der ersten Ankunft Christi, von seinem eigenen ersten Advent. Das war das Wunder der Weihnacht. Ihr wohnte ein Zauber inne, und sie behielt diesen Zauber bis heute. Wir wissen aber auch von einer ganz neuen Ankunft, von einem ganz neuen, einem Zweiten Advent Jesu Christi. Wir wissen vom Geheimnis der Zukunft. Dem Ende wird ein unbeschreiblicher Zauber innewohnen, der uns jetzt schon beschützt und der uns jetzt schon hilft, zu leben – der uns jetzt schon tröstet. „Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr, wenn die Herren der Erde gegangen.“ Ja, komm, Herr Jesu! Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und welcher tiefer hinabreicht als alle Verzweiflung, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn! Amen.

Predigt, gehalten im Akademischen Gottesdienst, 2. Advent, 4. Dezember 2005, Stadtkirche St. Michael, Jena.


Prof. Dr. Michael Trowitzsch, Jena