Wenn Freundschaften sich auseinander entwickeln

Predigt zu Joh 15, 13

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Von Stephan Schaar

Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt! AMEN.

Liebe Gemeinde: Freundschaft ist laut einer Definition vom Beginn des 20. Jahrhunderts “das auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende und von gegenseitigem Vertrauen getragene freigewählte gesellige Verhältnis zwischen Gleichstehenden.”

Das klingt sehr nüchtern. Pathetischer formuliert Friedrich Schiller in seiner Ode an die Freude - der Text unserer quasi Nationalhymne der Europäischen Union. Darin heißt es: “Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, ..... mische seinen Jubel ein!”
Freundschaft ist demzufolge ein hohes Gut und offenbar etwas, das errungen werden muss.

So auch der Tenor eines Operettenschlagers von 1930 aus dem Film Die drei von der Tankstelle: “Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Ein Freund bleibt immer Freund, auch wenn die ganze Welt zusammenfällt. Drum sei auch nie betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt: Ein Freund, ein guter Freund, das ist der größte Schatz, den’s gibt.”

Ist das so?

Wir haben uns am Montag über Erfahrungen mit Freundschaft ausgetauscht und dabei festgestellt, dass die in der Literatur beschriebene Freundschaft ein Ideal zu sein scheint, das in der Wirklichkeit selten erreicht wird. Extreme Maßstäbe setzt Schiller in seiner berühmten Ballade Die Bürgschaft von 1798. In diesen heroischen Zeiten bekennt der Protagonist: „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht ein Retter willkommen erscheinen, so soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blut’ge Tyrann sich nicht, dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, er schlachte der Opfer zweie und glaube an Liebe und Treue.“

Das mag es in dramatischen Einzelfällen gegeben haben, in Situationen wie jener, die das Gedicht beschreibt: Tyrannei, Verfolgung, Drangsal. Aber nicht nur “ziemlich beste Freunde” stehen füreinander ein, wenn es darauf ankommt, sondern sogar Fremde; ich denke an Pater Kolbe, der sich anstelle eines Familienvaters den Nazis als Geisel angeboten hat und umgebracht wurde.

Aber das ist nicht “das normale Leben”. Darin hat Freundschaft dann doch einen höheren Stellenwert als das, was man als “Bekanntschaft” bezeichnet, die auf gemeinsamen Aktivitäten und punktuellen Übereinstimmungen beruht. Sie geht über das Signalhafte einer Floskel hinaus, mit der man sich seinerzeit in der FDJ begrüßte, und auch die sogenannten “Freundschaftsanfragen” bei Facebook und Co. reichen qualitativ im Kern nicht an das heran, was es an inniger Verbundenheit jenseits von Verwandtschaft gibt.

Nicht immer, aber sehr oft bleibt einem, wenn man von allen verlassen ist, noch der Bruder, die Schwester, Cousins und Cousinen - der Schoß der Familie. Doch die hat man sich eben nicht ausgesucht! Das hat einerseits den Vorteil, dass man nichts für den peinlichen Onkel und den unausstehlichen Schwager kann. Andererseits ist es mit dem Nachteil verbunden, zu Kompromissen oder zumindest einer gewissen Rücksichtnahme bei Familienfesten verpflichtet zu sein - bis hin zum Speiseplan und der Musikauswahl bei der eigenen Hochzeitsfeier.

Freundschaften entwickeln sich, werden geschlossen, weil man einander kennen- und schätzengelernt hat, dieselben Werte und Vorlieben teilt und deswegen nicht nur einander eine angenehme Gesellschaft darstellt, sondern so etwas wie ein Seelenverwandter geworden ist. Wobei zu wahrer Freundschaft auch der Mut dazugehört, einander die Wahrheit zu sagen - auch wenn sie unangenehm sein kann: Es ist der Freund - wenn überhaupt -, der die nötige Sachlichkeit hat und die Persönlichkeit des Gegenübers gut genug kennt, um einschätzen zu können, ob dessen neue Partnerin tatsächlich zu ihm passt, ob das Manuskript zu einer Veröffentlichung taugt, der soeben erworbene Anzug tragbar ist.

Ich erlebe manchmal bei Taufgesprächen mit Staunen, dass die Eltern des Täuflings mit einem befreundeten Paar verabredet haben, füreinander und die Kinder des Freundespaares im Ernstfall einzustehen - etwa, wenn es zu einem tödlichen Unfall kommen sollte. Diese Art “Patenschaft” geht weit über das hinaus, wozu man sich als christlicher Taufpate im Normalfall verpflichtet; und doch sind manche dieser allerbesten Freunde als Patinnen und Paten ungeeignet: wenn sie nämlich gar nicht in der Kirche sind.

Wir sind jetzt zwar schon beim kirchlichen Leben angelangt, liebe Gemeinde, aber ich möchte doch noch ein wenig verweilen bei der Freundschaft im allgemeinen, ehe ich auf die Frage eingehe, was es mit Freundschaft und Freundesliebe in der Bibel auf sich hat. Wenn Freundschaften entstehen, sich irgendwann und irgendwie ergeben, und im Laufe der Zeit wachsen, ist das beglückend. Aber alles, was wird, vergeht irgendwann auch wieder.

Zumindest sind auch Freundschaften jenen Veränderungen unterworfen, die unser Leben prägen: Da zieht jemand in eine andere Stadt, da wird eine Ehe geschlossen, da werden Kinder geboren...

Wenn Umstände sich ändern, hat das natürlich Auswirkungen auf eine Freundschaft, angefangen damit, dass man nie mehr so viel Zeit mit Kumpels, Bekannten und auch Freundinnen und Freunden verbringt wie während der Jugendjahre. Ist die Schule beendet, die Ausbildung oder das Studium abgeschlossen, hat man in aller Regel weniger Zeit, seine Freundschaften zu - Achtung: - pflegen. Denn gepflegt werden müssen sie, sonst gehen sie ein.

Mit 30 sind nicht nur die Lebensgewohnheiten andere als mit 20, mit 60 andere als mit 40. Man muss mitunter auch die Freizeit aufteilen zwischen Familie oder Partnerschaft einerseits und Freundschaft andererseits, wenn diese nicht gut miteinander vereinbart werden können. Und irgendwann ist eine Freundschaft womöglich allein deshalb zu Ende, weil einer der Freunde verstorben ist.

Können Männer und Freunde miteinander befreundet sein, ohne dass er oder sie auf die Idee kommt, da sei womöglich mehr drin? - Unterhaltsam und hintergründig zugleich wird das in dem Filmklassiker “Harry und Sally” durchbuchstabiert. Wir waren uns am Montag einig, dass - geschlechtsunabhängig - eine Freundschaft zwischen zwei Menschen dann ungetrübt möglich ist, wenn es keinerlei sexuelle Attraktion gibt.

Vor gut einem Jahr haben langjährige Freunde uns die Freundschaft gekündigt. Das hat mir einige Zeit lang zu schaffen gemacht. Was war geschehen? Wir kannten uns aus meiner ersten Pfarrstelle, hatten uns durch die gemeinsame Arbeit im Gemeindekirchenrat besser kennengelernt und irgendwann damit begonnen, uns privat zu verabreden - meist zu viert.

Nach meinem Weggang aus Perleberg trafen wir uns zwar seltener, aber wenn wir uns etwa dreimal jährlich sahen, dann mit Übernachtung und sehr langen Abenden, bei denen wir viel Spaß hatten, aber auch ernsthaft diskutierten. Dass wir beispielsweise kein gemeinsames Reiseziel finden würden, war uns schon immer klar, weil es die Freunde in die Berge zieht und uns ans Meer, sie in deutschsprachige Gegenden, uns gern ins Ausland; sie immer mit dem Auto, wir immer häufiger mit dem Flugzeug.

Dann kam das erste Enkelkind, und dann kam Corona. Unterschiede, die immer schon bestanden hatten, zeigten sich deutlicher. Sie hatten der Enkelin wegen fast nie mehr Zeit für unsere Treffen - nicht einmal mehr zum Jahreswechsel, wo wir immer nächtelang gespielt hatten. Ja, und wir verstanden nicht, wie man sich derartig einigeln und abschotten kann, um einer Infektion zu entgehen, wo es doch Impfungen gab...

Die Entfremdung wuchs, und irgendwann stellten wir fest, dass wir einander anscheinend bei weitem nicht so gut kannten, wie wir vermeint hatten. Missverständnisse und Enttäuschungen folgten - und schließlich die Ansage, dass das nicht fortgesetzt werden soll. Dass man seine Freunde lieben soll, steht meines Wissens nirgends geschrieben. Aber das ist ja auch ebenso überflüssig, weil selbstverständlich, wie wenn man Liebenden zureden würde, sie sollten einander lieben.

Wenn ich recht sehe, ist Freundschaft in der Bibel kein Thema für Diskussionen, auch wenn es allerhand Spruchweisheiten gibt, die ein anständiges Verhalten Freunden gegenüber anmahnen. Einige wenige Freundschaften werden besonders beleuchtet - so etwa die zwischen Jonathan und David.

Auch Jesus war einem seiner Jünger - “den er liebhatte” - besonders zugetan; man könnte das vielleicht “befreundet” nennen. Hiobs Freunde bringen es fertig, eine ganze Woche lang schweigend bei dem trauernden Freund auszuharren. Als sie dann allerdings zu reden beginnen, nimmt das Unheil seinen Lauf.

Wenn Jesus sagt, dass niemand größere Liebe hat als jener, der sein Leben lässt für seine Freunde, möchte ich zum einen an Pater Kolbe und andere erinnern, die dies dadurch übertroffen haben, dass sie nicht für Freunde, sondern für Fremde gestorben sind. Zum anderen gebraucht Jesus in unserem Abschnitt aus dem Johannesevangelium einen anderen Freundesbegriff als jenen, den ich zu Beginn zitierte; denn von Gleichrangigkeit kann zwischen ihm und den Jüngern kaum die Rede sein! Vielmehr definiert der johanneische Jesus: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.

So erhaben diese Worte klingen (die freilich im Laufe der Geschichte abscheulich missbraucht worden sind), so wenig taugen sie meines Erachtens als Richtschnur für unser Verhalten gegenüber Freunden, wenn nicht, wie besprochen, eine Extremsituation vorliegt, in welcher einer sich opfert, um den anderen oder / und den gemeinsamen Wert zu retten: Der Freund springt über Bord, ehe es zu einem Streit über die Ressourcen kommt, die zu knapp sind, als dass beide eine Chance aufs Überleben hätten...

Wenn ich die Blickrichtung ändere, wird mir die Freundes-Analogie wesentlich sympathischer und tauglicher, um ohne Scheu bei Gott anzuklopfen, auch wenn es mitten in der Nacht ist, weil er - als mein Freund - meine Notlage versteht und jederzeit dazu bereit ist, mir aus der Patsche zu helfen.

Ich muss nur suchen, bitten, anklopfen.

Amen.


Stephan Schaar