Wir werden keine Sterne sehen. Heute wäre der Tag des Endspiels der Fußball- Europameisterschaft gewesen, in London. Noch sind die Spielpläne im Internet zu finden. Aber durch Corona ist alles anders geworden. Eine Europameisterschaft gibt es nicht. Dafür viele andere Herausforderungen. Eine der kleineren: Werde ich diesen Sommer aufbrechen können, Koffer packen, in den Urlaub fahren?
In diesem Jahr ist alles anders. Nur die Situation der Menschen in den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer nicht. Zwar besteht im Moment keine Gefahr, dass sie den Kurs der 5-Sterne- Kreuzfahrtschiffen mit All-Inclusive und 24-Stunden-Animation kreuzen. Mediterrane Highlights, 10 Tage ab 1600€, Rabatt für Frühbucher. Die fahren dieses Jahr auch nicht. Aber das Mittelmeer ist immer noch ein Meer, in dem überfüllte Flüchtlingsschiffe mit verzweifelten Helfern und Geflüchteten darauf von Hafen zu Hafen geschickt werden. Und es gibt Hunderte namenlose Ertrunkene, Männer, Frauen, kleine Kinder. Über Werte, über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit wird nicht mehr gesprochen. Wir haben gerade andere Sorgen. Und die Sterne auf der europäischen Flagge drohen mehr und mehr zu verblassen.
Du wirst Sterne sehen. Als der alte Mann aus dem Zelt getreten war, hatte er nach oben gesehen, so wie immer, wenn er aus dem Dämmer und der Enge nach draußen kam. Es war früh am Morgen, noch kühl und doch war da schon der Anflug des neuen Tages. Die Sterne verblassten gerade am Himmel. In seinem Kopf war eine Stimme. Sie sagte: „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ (Gen 15,5)
Das war das Versprechen. Es kam von Gott. Und davon war noch nichts zu sehen. Er war doch längst ein alter Mann mit einer alten Frau. 75 Jahre war Abraham jetzt alt. Seine Hoffnung auf Kinder und damit auf eine Zukunft war über die Jahre langsam verblasst. So wie die Sterne im Licht des Morgens langsam verschwinden. Die ungeschminkte Wahrheit über sein Leben war die: Du hast keine Kinder. Du hast keine Zukunft. Ein alter Mann. Er wird die Sterne sehen, er wird Kinder und Kindeskinder haben, so viele, dass sie nicht mehr zu zählen sind. Aber noch ist nichts davon zu sehen. Abraham hat Gott gehört. Gott verspricht ihm etwas und fordert etwas von ihm:
„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (Gen 12, 1-3)
Du wirst Sterne sehen, so viele, dass du sie nicht zählen kannst. Aber davor steht ein Aufbruch, ein kompletter Neuanfang im zarten Alter von 75 Jahren. Abraham und Sara haben wohl eher schon daran gedacht, sich langsam auf ihre letzte Reise begeben zu müssen und das letzte Stück ihres Lebensweges zu gehen. Haran heißt der Ort, wo sie leben und von dem die beiden dachten, dass es der ist, von dem sie nicht mehr wegkommen werden. Und nun sollen sie alles zusammenpacken, was sie haben, ihre Habe, ihr Vieh, auch einige von den Menschen, die zu ihnen gehören.
„Geh aus deinem Vaterland, von deiner Verwandtschaft, aus deines Vaters Haus“ sagt Gott. Es geht für Abraham und Sara um Aufbruch und um Abschied in all seinen Nuancen – von dem, was man leichter und vielleicht sogar gerne hinter sich lässt, bis zu dem, was einem zu Herzen geht beim Losgehen. Konzentrische Kreise sind das. Irgendwann ist bei jedem Aufbruch der Abschied so nah, dass man ihn spüren kann und nicht mehr vor ihm ausweichen. Und niemand sagt, dass das leicht ist. Auch Gott nicht.
Aber wenn Gott sagt: „Geh!“, dann steht dort im hebräischen Text „Geh und - geh für dich!“. Geh - und tu das für dich. Denn im Dableiben und immer nur Zurückblicken gewinnt deine Vergangenheit. Dann hast du keine Zukunft. Allen Grund hätte der alte Mann Abraham gehabt, das so zu machen, zusammen mit seiner alten Frau. 75 Jahre Leben sind schließlich eine Menge Vergangenheit. Aber er macht es anders. Er will eine Zukunft gewinnen. Und geht los.
Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte. (Gen 12,4a.)
Es kann so nicht weitergehen. Das ist auch uns klar. Und genauso klar wie bei Abraham ist: Ein Aufbruch ist nicht leicht. Wir sind doch alle so gut eingewohnt, in den 75 Jahren Frieden, Sicherheit und Wohlstand in unserem Land und in Europa. Das ist unser Haran. Wir sind nun schon so lange dort, dass wir uns gar nichts anderes mehr vorstellen können. Aber wenn wir immer nur zurückblicken, dann wird die Vergangenheit gewinnen.
Und wenn wir zurückblicken, dann sehen wir doch genau, was vor diesen 75 Jahren Frieden war. Da haben wir in Europa in unseren Nachbarn immer nur unsere Feinde gesehen. Das war das Jahrhundert der großen Kriege mit Millionen von Toten auf allen Seiten, Männer, Frauen, kleine Kinder. Diese unzähligen nicht gelebten Leben. Wer will im Ernst in diese Zeiten zurück? Wer will neue Mauern und neue Grenzen in Europa und Lager in Afrika, wo Menschen wie Tiere eingesperrt werden? Und wer will am Ende Stacheldraht, Scheinwerfer und Patrouillen an den Stränden des Mittelmeers? Im Osten Deutschlands, da w, wo jeztzt alle hinfahren, hatten wir schon einmal solche Strände, an der Ostsee, die man nach 22 Uhr nicht mehr betreten durfte. Damals, damit die Menschen nicht wegliefen – und heute, damit sie nicht herkommen?
Sieh nicht zurück, sagt Gott zu Abraham. Denn diesen Weg kannst du nicht gehen. Sieh nach vorne, brich auf, geh los. Geh für dich und für alle, die zu dir gehören. Abraham konnte bei seinem Aufbruch nicht alles mitnehmen, was ihm gehörte.
Und wir werden auch nicht alles mitnehmen können auf dem Weg, der vor uns liegt. Immer weiter wachsender Wohlstand, das geht nur auf Kosten anderer. Auch die Corona-Krise hat nur deutlicher sichtbar gemacht, was wir längst schon wussten. Das merken wir doch sogar in unserem reichen Land, einem der reichsten dieser Erde, in dem es trotzdem Arme und Abgehängte gibt. In dem die einen zwei- oder dreimal im Jahr eine schöne Kreuzfahrt machen können. Und die anderen am Monatsende sehen müssen, wie sie über die Runden kommen. Das merken wir in unserer Welt, weil sie auf einmal nicht mehr weit weg sind, die Armen und Abgehängten, sondern weil sie jetzt zu uns kommen, nach Europa und nach Deutschland.
Und alte Männer helfen uns nicht. Jedenfalls nicht alte Männer, die immer nur zurückblicken auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit, in der ja nicht alles schlecht war und die Welt in Ordnung. Wenn wir alte Männer brauchen, dann solche wie Abraham. Die sich herausrufen lassen aus dem, was immer schon so gewesen ist. Die an etwas anderes glauben als an das, was vor Augen ist. „Abraham glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.“ (Gen 15,6) Abraham ist ein Mensch, der die Zukunft mehr will als die Vergangenheit. Und losgegangen ist, ziemlich langsam wahrscheinlich, Schritt für Schritt und mit Pausen. Er war ja nicht mehr der Jüngste. Aber er hat die Sterne am Himmel gesehen und darin das große Versprechen von Gott: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (Gen 12,3).
„In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“,
das verspricht Gott Abraham.
Geh, für dich und für alle deine Kinder, für die Juden, Christen und Muslime,
die alle an dich, Abraham glauben werden.
Damit sich mein Segen ausbreitet auf dieser Welt.
Gehen wir. Weil Gott es sagt.
Gehen wir, für uns. Damit wir die Sterne sehen.
Amen.