Reformiertes Ostfriesland

Eine kleine Einführung

Gérard Jode,Laurentius Michaelis: Frisiae Orientalis nova et exacta descriptio (1579, Ausschnitt) © Wikicommons/Sammlung Körber-Einbeck,Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen

Die Wittenberger Reformation ging den freiheitsliebenden Ostfriesen nicht weit genug. Das "Ostfriesische Sonderrecht" verhinderte Konflikte zwischen Lutheranern und Reformierten.

„Eala freya Fresena“ – es lebe das freie Friesland - lautet der Wahlspruch der Ost- wie der Westfriesen beiderseits der heutigen deutsch-niederländischen Grenze, und mit diesem Ruf wurden schon um die Zeitenwende die Thingversammlungen beschlossen.

Es sind wohl die Weite der Landschaft und die unmittelbare Nachbarschaft des Meeres, die zu dem Widerwillen der Friesen gegen Bevormundung und Gängelung beigetragen haben. So nimmt es auch nicht wunder, dass reformatorische Gedanken bereits um 1520 bei Häuptlingen und Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fallen. Häuptlinge waren auf Zeit gewählte Gerichtsherren, nicht aber Grundherren der freien Bauern.

Anfänge der Reformation

Freier Bauer war, wer mehr als 12 ha Land sein Eigen nannte; wer weniger besaß, wurde von öffentlichen Verpflichtungen (Wasserwegebau, Hochwasserschutz etc.) verschont, hatte in diesen Dingen in der Volksversammlung dann allerdings auch kein Mitspracherecht. Eine Leibeigenschaft aber gab es nicht, jeder war frei, und so hat sich in Ostfriesland im Mittelalter auch keine feudale Struktur entwickeln können.

Anfänglich waren die reformatorischen Gedanken vor allem als willkommene Argumente gegen die katholische Kirche willkommen, die theologischen Differenzen zwischen Luther und Zwingli, später Calvin spielten keine wesentliche Rolle. Das änderte sich, als der aus dem niederländischen Zwolle stammende Magister Aportanus 1524 in Emden an der Großen Kirche (JaLB) zu wirken begann und 1526 in Oldersum ein Religionsgespräch veranstaltete. Die Diskussionen fanden in der Volkssprache statt und hatten fünf Thesen als Gesprächsbasis: Drei Thesen zur alleinigen Mittlerschaft Christi unter Ausschluss der Mitwirkung Marias – also der Kirche – eine These über die Rechtfertigung allein aus Glauben und eine über die Beibehaltung althergebrachter Zeremonien. Dieses Gespräch wurde propagandistisch sehr geschickt genutzt, ein Bericht darüber wurde gedruckt, breit gestreut und tat mit der Zeit seine Wirkung in den Herzen und Köpfen der Leute.

So kam es, dass der – durch Aportanus calvinistisch geprägten – reformatorische Gedanken sich allmählich verbreitete und in der Bevölkerung Fuß fassten. Ein Datum für den Übertritt Ostfrieslands zur Reformation gibt es nicht, vielmehr gab es bis ins 17. Jahrhundert ein relativ friedliches Nebeneinander von Evangelischen und Katholiken – die man in Ruhe aussterben ließ, anstatt sie zu vertreiben oder gar zu töten (1616 starb die letzte katholische Nonne). Solch großzügige Toleranz hat es nicht überall gegeben, und wieder waren es wohl die Erfahrungen der Seefahrer mit anderen Kulturen und Religionen, die zum Wachsen dieser Haltung beigetragen hatten.

Aportanus und seine Mitstreiter, darunter Karlstadt, ernteten breite Zustimmung mit ihrer Meinung, dass die Wittenberger Reformation nicht weit genug ginge, nicht konsequent genug sei und sich nicht genügend von der alten Kirche abgrenze. Auf dem Hintergrund der nichtfeudalen, sogar antifeudalen friesischen Tradition sowohl der Bauernschaft als auch und erst recht der seefahrenden Kaufleute vor allem in Emden, aber auch in Aurich, Leer und Norden, ist diese Radikalität bzw. Konsequenz verständlich. 1529 notiert der Historiker Beninga: „De Predikanten in Oostfreesland worden van uthheimischen beschuldiget, dat se nicht over een stemmeden mit der leere und nicht sodane ordenunge als in de Oostersche Steden hielden.“ Die Kritik kam also von außen, aus Bremen und Hamburg, und die angegriffenen ostfriesischen Prediger antworteten mit einem Bekenntnis, in dem sie das römische Sakramentsverständnis und die daraus abgeleiteten Kirchen-, Staats- und Gesellschaftslehren ebenso ablehnten wie die Funktion kirchlichen Handelns als „Gnadenmittel.“

Johannes a Lasco

Seitens des deutschen Reiches war Ostfriesland mittlerweile zur Grafschaft ernannt, und aus Angst vor dem niederländischen „Ketzermeister“ Karl von Geldern versuchte der damalige Landesherr Enno II, durch die „Bremer Kirchenordnung“ von 1530 die Prädikanten auf die lutherische Linie zu bringen und sich dadurch Rückhalt im deutschen Reich zu sichern. Freilich endeten seine Bemühungen an den Grenzen der ostfriesischen „Herrlichkeiten,“ den Regierungsbezirken der Häuptlinge also, und am Einfluß der Kaufmannschaften. Die einzige Auswirkung dieses Reglementierungsversuchs war die Einführung eines Superintendenten für Ostfriesland im Jahre 1540; dieser Superintendent sollte als obrigkeitliches Kontrollorgan fungieren.

Doch mit dem aus Polen stammenden Johannes a Lasco, einem Schüler des Erasmus von Rotterdam, als Superintendenten hatte man einen Mann berufen, dem zwar eine Kirchenordnung ein wichtiges Anliegen war, der aber ganz klar der Schweizer Reformation zugeneigt war. A Lasco begann, Visitationen durchzuführen und gründete 1544 den noch heute regelmäßig tagenden Coetus aller reformierter Prediger Ostfrieslands; Tagungsort ist seit damals die Neue Kirche in Emden, und noch immer bestimmt der Coetus die Richtlinien der Theologie, führt auch die Disziplinaraufsicht über die Pfarrerschaft; hier wird das reformierte Prinzip der Kollegialität deutlich: Nicht Bischöfe oder gar Päpste entscheiden in theologischen oder disziplinarischen Fragen, sondern die Versammlung der Prediger. Gleichzeitig bereitete a Lasco die Regelung der Kirchenzucht durch die Kirchenräte der Gemeinden vor, zunächst für Emden, dann, wenn sich das Verfahren bewährt hatte, für ganz Ostfriesland. Doch die Gemeinden behielten überwiegend das ihnen vertraute, uralte Genossenschaftsrecht bei, wonach die mit der Armenfürsorge verknüpfte Verwaltung der Kirchengüter in den Händen von ehrenamtlich tätigen vereidigten „Kerkvoogden“ lag.

Noch bevor a Lasco alle Gemeinden visitiert hatte, entwickelten sich zwei Strömungen: In der reichen Marsch blieb man klar bei der reformierten Linie, während die Gemeinden auf der armen Geest sich der (obrigkeitsergebenen) lutherische Richtung zuneigten. Mit Hilfe des sogenannten „Ostfriesischen Sonderrechts“ aber wußte man Streit und Zwietracht zu verhindern. Dieses Sonderrecht legt für alle Zeiten fest, dass Lutheraner in reformierten Gemeinden und Reformierte in lutherischen Gemeinden unter Beibehaltung ihres Bekenntnisses vollberechtigte Gemeindeglieder sind. So konnte die Einheit der Evangelischen in Ostfriesland gewahrt werden. A Lasco setzte sich nach Gesprächen mit Menno Simons, dem Gründer der Mennoniten, für deren Verbleib im Lande ein, konnte sich aber gegen gräfliche Ängstlichkeit gegenüber dem deutschen Kaiser nicht durchsetzen.

Die Durchsetzung des kaiserlichen Interims nach dem Schmalkaldischen Krieg scheiterte am Widerstand der ostfriesischen Häuptlinge, der Coetus reformierter Prediger erarbeitete den Emder Katechismus, der immerhin bis 1888 in Gebrauch war und erst dann vom Heidelberger abgelöst wurde. Das – inzwischen und verständlicher Weise streng lutherische – ostfriesische Grafenhaus war nun der Meinung, „in allem calvinistischen Wesen ... zündelte dem Denken nach das öffentliche Ärgernis des Aufruhrs wider die Obrigkeit und gegen die von Gott geforderte Ordnung der Dinge.“ Dass Potentaten so denken, ist verständlich, doch nicht der Calvinismus machte die ostfriesichen Häuptlinge aufmüpfig, sondern ihre Tradition von Freiheit und Unabhängigkeit machte sie für den Calvinismus empfänglich.

Die Emder Synode von 1571

Nach 1555 erlebte besonders Emden einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung, verstärkt durch den Zuzug niederländischer Kaufleute und Handwerker, besonders nach dem calvinistischen Aufstand 1566. Dadurch verstärkte sich die reformierte Prägung der Stadt, der Emder Kirchenrat etablierte gegen den Willen der regierenden Gräfin eine „Fremdendiakonie“ und bezog im niederländischen Freiheitskrieg offen Partei gegen Spanien.

Dies führte dann dazu, dass nach der Besetzung der Niederlande durch die Spanier und der damit verbundenen Rekatholisierung zahlreiche niederländische Glaubensflüchtlinge nach Emden flohen und hier willkommene Aufnahme fanden. Auch aus Flandern, Brabant und Frankreich kamen Flüchtlinge, und in kürzester Zeit hatte sich die Einwohnerzahl von Emden mehr als verdoppelt; Emden hatte damals mehr Schiffe als England. Doch auch in andere deutsche Städte kamen Glaubensflüchtlinge aus den von Spanien besetzten Landen, es gab zur Zeit der Frankfurter Buchmesse 1570 erfolgreiche Versuche der Kontaktaufnahme untereinander, und im Juni 1571 wurden von Heidelberg aus alle Flüchtlingsgemeinden „in Deutschland und Ostfriesland“ sowie die in den Niederlanden noch bestehenden „Gemeinden unter dem Kreuz“ zu einer gemeinsamen Synode eingeladen. Diese fand nach einigen vorbereitenden Regionalsynoden vom 4. bis zum 13. Oktober 1571 in Emden statt, damit auch nach England geflohene Niederländer teilnehmen konnten.

Diese Synode erarbeitete Lehrgrundsätze über die Leitung und Ordnung der Kirche, über die Berufung der Pastoren sowie über die Wahl der Ältesten und Diakone. Diese Lehrsätze finden sich in allen Ordnungen reformierter Kirchen wieder; besonders auffällig ist, dass sie jeder hierarchisch-autoritär-obrigkeitlichen Kirchenstruktur eine klare Absage erteilen. So heißt es im § 1: „Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang oder die Herrschaft beanspruchen, sondern sie sollen lieber auch dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit aus dem Wege gehen.“ Damit wird klargestellt: Es gibt nur eine Autorität in der Kirche. Das ist die Autorität des Gotteswortes. Unter dieser Autorität ist die Kirche antiautoritär gegenüber allen, die in ihr oder ihr gegenüber auch noch Autorität beanspruchen möchten

Auf dieser Basis – sie steht heute leicht aktualisiert z. B. als Präambel in der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche (ERK) – wurde dann eine streng presbyterial-synodale Verfassung nach dem Subsidiaritätsprinzip entwickelt. D.h., die Gemeinden regeln ihre Angelegenheiten durch das von ihnen gewählte Presbyterium selbst und delegieren einige Vertreter in die Kreissynode, um übergemeindliche Angelegenheiten zu ordnen. Was auf der Mittelebene nicht zu regeln ist, fällt der Gesamtsynode als Aufgabe zu. Zur Zeit der Emder Synode stark verbreitete Tendenzen zur völligen Autonomie der Gemeinden konnten damit aufgefangen werden, doch noch heute gibt es auch in Deutschland lockere Zusammenschlüsse freier reformierter Gemeinden, und die Emder Gemeinde bezeichnet sich bis heute als „reformierte Kirche.“

Eine Erinnerung an diese Zeit vor über 400 Jahren ist am alten Emder Hafentor zu sehen. Dort ist das 1571 entwickelte reformierte Siegel in Stein gehauen, ein Segelschiff, und darum herum die Inschrift: „Godts kerk, verfolgt, verdreven, heft God hyr trost gegeven.“

Die Auswirkungen

Die Emder Synode von 1571 war zwar die erste Generalsynode der niederländischen reformierten Kirche, doch hat sie das Reformiertentum weltweit und also auch in Deutschland wesentlich geprägt. Und zwar nicht nur die Verfassungen, sondern auch das Gemeindeleben. In der ERK, aus der ich komme, sah das zu meiner Zeit (1968 bis 1980) so aus:

Alle drei Jahre wurde jeweils die Hälfte des Presbyteriums für sechs Jahre gewählt, und das Presbyterium entschied über Landverpachtung und nötige Reparaturen ebenso wie über das, was der Pastor zu tun hatte; die Gemeinde hat das Amt der Verkündigung, das sie dem Pastor überträgt. Der Pastor ist also Pastor der Gemeinde, nicht der Landeskirche, wird von der ganzen Gemeinde gewählt und hat das Presbyterium als Dienstaufsichtsorgan, nicht einen Superintendenten (kein Pastor soll über andere Pastoren herrschen). Mitglieder des Presbyteriums – „Kirchenrat“ genannt – können höchstens zwei mal hintereinander gewählt werden.

Zu den ostfriesischen Besonderheiten gehören vermutlich die Sitzkanzeln: Sie sind relativ geräumig und bieten dem Prediger Gelegenheit, sich während der Gesänge hinzusetzen. Die Liturgie, also der Ablauf des Gottesdienstes, war nicht anders als hier bei uns, einen deutlichen Unterschied gibt es allerdings beim Abendmahl: Die Gemeinde setzt sich um den Abendmahlstisch.


Paul Kluge