Die Frau, die ihr Kloster verlassen und zweimal Pastoren geheiratet hatte, kam 1535 nach Genf in der unruhigen Zeit, als die Stadt die Reformation einführte. Dentière schrieb drei Schriften, die erste über die Befreiung Genfs vom Herzogtum Savoyen, die zweite als einen offenen Brief an die Königin von Navarra mit deutlich feministischen Zügen und die dritte als Vorrede zu einer Predigt von Calvin.
Marie Dentière war nicht nur redegewandt, sondern auch eine engagierte und lebhafte Autorin. Der reformierte Glaube kann eine Reihe von tapferen Frauen aufweisen, aber wenige wie sie, die sich theologisch äußerten. Aus diesem Grund wurde der Name Marie Dentière am 3. November 2002 am Genfer Reformationsdenkmal neben den Namen von Hus und Wyclif eingeschrieben. Bis in die letzten Jahrzehnte ignorierte die Geschichtsschreibung der Reformation die frühe Mitstreiterin unter den Genfer Reformatoren. Erst als man anfing, nach den Frauen der Reformationszeit zu fragen, wurde sie wiederentdeckt. Ihr Schicksal zeigt, wie sehr Frauen sich von der Reformation eine bedeutendere Rolle im religiösen Leben erhofften und enttäuscht wurden. Im Deutschen Reich gab es ähnliche Frauenschicksale, man denke an Argula von Grumbach in Bayern und an Katharina Zell in Straßburg[1]. Gemeinsam war allen diesen Frauen ihre große Hoffnung, die bald zunichte gemacht wurde.
Marie Dentière oder d´Ennetières (1490/95–1561) wurde in Tournai in Flandern als das vierte von dreizehn Kinder geboren[2]. Sie entstammte einer adligen Familie, und wie so viele junge Frauen aus ihrer gesellschaftlichen Schicht kam sie ins Kloster. Dentière wurde Pröpstin in der Abtei Notre-Dame des Prés-aux-Nonnains in der Nähe von Tournai. Vermutlich unter dem Einfluss von Luthers Gedanken verließ sie das Kloster. Später erzählte sie von ihrem Flucht aus dem Kloster: „…in diesen Orden gibt es ja nichts anderes als Scheinheiligkeit, geistige Verderbnis und Müßiggang. Deshalb habe ich ohne langen Verzug dem Schatz etwa 500 Dukaten entnommen und mich aus diesem unglücklichem Dasein zurückgezogen…“[3]. Damit deutet sie den Reichtum des Konvents an. 500 Dukaten waren eine stattliche Summe. Vielleicht war es ihre Mitgift, die sie ins Kloster gebracht hatte, in dem Fall wäre ihre Familie wohlhabend gewesen.
Marie Dentière heiratete Simon Robert, früher Priester in einer Gemeinde bei Tournai, und genau wie bei Luther und Katharina von Bora war diese Ehe ein doppelter Zölibatsbruch: Eine Nonne heiratete einen Priester. Simon Robert gehörte zum Kreis von Metz um Bischof Briçonnet. Dieser Kreis bestand aus humanistischen Reformkatholiken, die mit der evangelischen Theologie Luthers sympathisierten, ohne jedoch den Bruch mit Rom zu wünschen. Gönnerin des Kreises und Beichtkind von Briçonnet war Margaretha von Navarra, die Schwester Königs Franz I. Zu diesem Kreis gehörten unter anderen der große Humanist Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis) und Guillaume Farel, der Reformator von Genf.
1528 findet man das Paar Dentière – Robert in Straßburg, denn von dort aus schrieb Martin Bucer an Farel, dass Marie Dentière – „die Frau von Simon“ - sehr krank sei.
Aus dieser Ehe gingen auf jeden Fall zwei Töchter hervor, Marie Roberte und eine andere, deren Name wir nicht kennen. Die Familie wohnte ab Mai 1528 in Bex, später in Aigle, wo Simon Robert 1532 oder 1533 verstarb. Danach heiratete Marie den sehr viel jüngeren Pastor Antoine Fromment (oder Froment). In dieser Ehe gebar sie mindestens eine Tochter, Judith. 1535 sagt Marie Dentière von sich selbst, sie habe fünf Kinder geboren. Eine Erklärung für diese Diskrepanz kann sein, dass viele Kinder früh starben. Von drei Töchtern sind jedoch die Namen ihrer Ehemänner bekannt, so dass sie das Erwachsenenalter erreicht haben müssen.
Antoine Froment(1509-1581), wie Farel auch ein Franzose aus der Dauphiné, war Pastor in Yvonand. Zusammen mit Guillaume Farel und Pierre Viret predigte er die evangelische Lehre in der Gegend um Neuchâtel und im Jura. Alle drei Pastoren kamen nach Genf, um die Stadt für die Reformation zu gewinnen. Marie zog im März 1535 mit der Familie nach.
Genf gehörte bis zum Jahr 1526 dem Herzogtum Savoyen. Die Stadt sagte sich von dieser Herrschaft los und verbündete sich mit den Städten Bern und Fribourg, um ihre Unabhängigkeit von Savoyen zu erreichen. Für das Bündnis mit Bern war es wichtig, derselben reformierten Religion anzuhören. In den Jahren 1532-35 kamen mehrere evangelische Prediger, darunter Farel, Viret und eben auch Antoine Fromment nach Genf. Erst 1535 wurde Genf nach ein Paar tumultuarischen Jahren evangelisch.[4]
Für die Ereignisse in diesen unruhigen Jahren haben wir eine interessante Quelle, geschrieben von einer Nonne im Klarissenkloster.[5] Jeanne de Jussie, die Schriftführerin des Klosters, schrieb ihre „Petite Chronique“, um die Vertreibung der Nonnen aus Genf ins benachbarte savoyardische Annecy zu schildern. Ihre Chronik, die den Zeitraum von 1528-35 schildert, war nur für die Schwestern bestimmt – als Erinnerung an die Ereignisse, die zu ihrer Vertreibung aus Genf führten.
Im Sommer 1535 gerieten die Klarissen zunehmend unter Druck, ihr Kloster zu verlassen. Zu den evangelischen Frauen, die die Nonnen überzeugen wollten das Klosterleben aufzugeben, gehörte auch Marie Dentière. Von ihr sowie von einer anderen Frau, Claude (oder Claudine) Levet, einer Apothekersgattin, berichtet Jeanne de Jussie mit Verärgerung, dass sie sich „in das Predigtamt eindrängte“(„se mesloit de prescher“). Für die Nonnen war es eine Zumutung, einer Predigerin zuhören zu müssen. Als sie selbst vom Rat zum Disput aufgefordert wurden, ihren Glauben darzustellen und zu verteidigen, lehnten sie entrüstet ab, da es sich nicht gehöre, dass Frauen in der Öffentlichkeit disputierten: „Es ist nicht die Aufgabe der Frauen, zu disputieren…und sie dürfen sich nicht in die Auslegung der Heiligen Schrift einmischen“[6].
Der Hintergrund für Marie Dentières Begegnung mit den Nonnen war der Wunsch des Rates der Stadt, das Kloster aufzulösen und die jungen Nonnen ihren Familien zurückzugeben, damit sie heiraten könnten. Am 26. August 1535 erschien erst der Gesandte der Stadt Bern, um den Klarissen zu erklären, dass nur eine Religion in Genf toleriert werden könne. Sie müssten die Stadt verlassen, aber einige Schwestern dürften bleiben, unter ihnen Schwester Colette Masuere. Da die Nonnen diesen Antrag ablehnten, erschien Marie Dentière, um mit ihnen zu sprechen. Sie suchte vergeblich nach Schwester Colette, die sich verleugnete.
Dentière begann dann von ihrem Leben, ihrer Flucht aus dem Kloster, ihrer Ehe mit einem „hübschen Gatten“ und ihren fünf Kinder zu erzählen. Sie, wie auch der Gesandte von Bern, betonten, dass sie jetzt im hellen Licht des Evangeliums gelangt waren[7], und die alten Irrtümer hinter sich gelassen hatten. Damit stieß Marie Dentière allerdings auf den entschiedenen Widerstand der Klarissen: sie halten in der Chronik daran fest, selbst die Erleuchteten zu sein, während die Evangelischen in Dunkelheit und Barbarei versänken[8]. Sie nannten Marie Dentière eine abtrünnige Nonne mit einer Giftzunge und spuckten sie an[9]. Nach Marie Dentière erschien Pierre Viret mit anderen, um die jungen Schwestern aus dem Kloster zu holen. Diese blieben jedoch standfest und verließen alle zusammen am 30. August 1535 Genf und gingen nach Annecy in Savoyen[10].
Marie Dentière war vermutlich vom Rat der Stadt oder von den Predigern beauftragt, eine bestimmte Schwester zu finden. Sie selbst kannte Schwester Colette nicht und musste ihren Namen von anderen, von der Familie oder vom Rat haben. Sie handelte also im Auftrag der Stadt und zusammen mit den Pastoren.
Ihre Stellung in Genf als aktive Mitstreiterin in der Verkündigung des Evangeliums schlägt sich dann in Dentières erster Veröffentlichung nieder. 1536 veröffentlichte sie ihr erstes Buch: „Krieg und Befreiung der Stadt Genf“[11]. In diesem Werk schildert sie lebhaft die Geschichte der Stadt von 1504 bis 1535, und lässt kein Zweifel daran, dass Gott selbst Genf aus der Hand der übermächtigen Feinde befreite, damit die Stadt zum rechten Glaube kommen konnte. Die Freiheit der Genfer war ihr wichtig:
„Denn es ist eine Tatsache, dass allezeit, seitdem diese Stadt Genf gegründet und erbaut ist, sie in großer Freiheit und Offenheit gewesen ist, ohne Unterwerfung unter irgendjemanden, so wie dies schriftlich bezeugt ist im Rathaus“.[12]
Die „Unterdrückung“ der Herzöge von Savoyen sei unrechtmäßig und Gott selbst habe der Stadt ihre Freiheit zurückgegeben, damit sie ihn recht anbeten könne. Zu dieser Freiheit gehört für Dentière auch Gerechtigkeit und es ist bemerkenswert, dass sie vor der Ankunft Calvins in die Stadt die Forderung nach Kirchenzucht deutlich ausspricht. Die Ratsherren sollen Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person walten lassen:
„…indem sie die Übeltäter strafen und die Guten verteidigen; nicht erlauben, irgendwelche Bilderverehrung, Gotteslästerungen, Zoten, Diebereien, öffentliche Trunksucht, überhaupt nichts, was gegen Gottes Gebot ist, zu tun oder zuzulassen; aber alle, die all diesem zuwider handeln, zu bestrafen; immer aber mit den Gehorsamen in aller Herzlichkeit und Güte reden.“[13]
Marie Dentière hoffte, der Rat der Stadt würde diese neue Sittlichkeit einführen. Das Besondere bei Calvins Einführung der Kirchenzucht war, dass er es als Aufgabe der Kirche sah, unter der Obhut von Pastoren und Ältesten die Kirchenzucht auszuüben, und nicht als Aufgabe des Rates. Die vom Konsistorium durchgeführten Maßnahmen der Kirchenzucht entsprachen aber dem Vorschlag Marie Dentiéres. Dies war allerdings nichts Besonderes für Genf: in jeder evangelischen Stadt wurde der Ruf nach besserer Moral, verantwortlicher Armenfürsorge und Freiheit laut.
Nicht nur Marie Dentière, sondern auch ihr Mann verfasste einen Bericht über die Ereignisse in Genf[14], sein Werk entstand jedoch sehr viel später, erst 1554. Vom Stil her ist es unwahrscheinlich, dass er der Verfasser der „Guerre et deslivrance“ ist[15], obwohl die Schrift anonym herausgegeben wurde, angeblich von einem Genfer Kaufmann[16]. Nur wenige Frauen konnten damals publizieren, sowohl Katharina Zell als auch Argula von Grumbach bekamen erhebliche Schwierigkeiten[17]. Es ist verständlich, dass eine Frau unter männlichem Pseudonym schrieb, bis ins 19. Jahrhundert wählten viele Autorinnen diesen Ausweg, um gelesen zu werden.
1539 schrieb Marie Dentière einen offenen Brief an die Königin von Navarra. Warum Farel und Calvin aus Genf verjagt worden waren, hatte die Königin gefragt und Marie Dentière veröffentlichte ihre Antwort[18]. Dabei drückte sie sich teilweise „sehr modern feministisch“ und antiklerikal aus. Der Brief wurde sofort vom Rat der Zweihundert beim Drucker beschlagnahmt[19]. Dentières Mann musste vor dem Rat erscheinen, denn Frauen waren damals nicht gerichtsfähig. Es ist natürlich möglich, dass der Rat ihn für den Verfasser hielt, aber auch für den Fall, dass Marie als Verfasserin des Briefes erkannt war, musste er sich für sie verantworten.
Marguerite d´Angoulême de Navarre (1492-1549) war die Schwester Königs Franz I. von Frankreich[20]. Sie war geprägt vom Geist des französischen Humanismus und des Reformkatholizismus, für den auch die oben genannten Namen Lefèvre d´Etaples und Bischof Briçonnet standen. Als Königin von Navarra schützte sie die Reformierten, unter anderem gab sie Calvin Geld, als er von Frankreich flüchten musste, damit er zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, reisen konnte[21]. Ihre Tochter, Jeanne d´Albret, ließ sie gut ausbilden und an ihrem Hof förderte sie die Bildung von Frauen.
Marguerite de Navarre war die Verfasserin vom „Spiegel der sündigen Seele“, einem Meditationsbuch, das die Sorbonne 1533 wegen ketzerischen Inhalts verbot, und vom „Heptameron“, einer Sammlung von Kurzgeschichten, die nie ganz fertig wurde – sie sollte ursprünglich hundert Geschichten umfassen – und erst nach ihrem Tod herausgegeben wurde.[22] Marguerite de Navarre blieb katholisch, vielleicht aus Liebe zu ihrem Bruder[23], vielleicht aus Bequemlichkeit oder aber weil sie dachte, sie könne so für die Reformkatholiken und für die Reformierten von größerem Nutzen sein.
Formlos, ja fast vertraulich schrieb Marie Dentière an die Königin. Andere Briefschreiber richteten sehr viel formellere, mit allen Versicherungen der Hochachtung und Untertänigkeit geschriebene Briefe an sie. Marie Dentière dagegen begnügte sich mit einem einfachen „Ma dame“ und sandte Grüße von ihrer Tochter an die Tochter der Königin, Jeanne d´Albret. Als Angehörige des niederen Adels und als Nonne würde sie kaum Zugang zu Marguerite de Navarre gehabt haben. Möglicherweise hatte sie als Glaubensflüchtling bei ihr Schutz gesucht[24] oder - vielleicht wahrscheinlicher - hatte sie über ihren ersten Mann, Simon Robert, und den Metzer Kreis der Humanisten ihre Bekanntschaft gemacht.
Marie Dentières zweiter Mann, Antoine Fromment, beschrieb ihr Verhältnis zur Königin als freundschaftlich[25]. Er selbst besuchte den Hof der Königin und war ob des freundlichen Empfangs ganz entzückt. Die beiden Frauen könnten in ihrer humanistischen Bildung zusammengefunden und sich als intelligente, religiös interessierte Frauen über alle Klassenunterschiede hinweggesetzt haben.
Der Brief Dentières gliedert sich in eine Einleitung, gefolgt von einer Verteidigung der Frauen („Défense des femmes“) und drittens den eigentlichen Brief, der sehr kritisch gegenüber der kirchlichen (katholische) Hierarchie ist und die Bibel als einzige Norm für eine Ethik festlegt.
Marie Dentière ist sich bewusst, dass Frauen nicht Männer belehren dürfen, sie sieht aber eine Möglichkeit für Frauen sich untereinander zu bestärken und bekräftigen. Diese Standpunkt passt auch zu ihrem Auftritt im Klarissenkloster und zu ihrer anonymen Veröffentlichung der Geschichte Genfs. Ihr Brief kann durchaus im Rahmen der in Frankreich seit längerer Zeit geführten Geschlechterdebatte, „querelle des femmes“, gesehen werden. In diesem Streit wurden Rolle, Aufgabe und Fähigkeiten der Frauen kontrovers diskutiert. Die Debatte führten zu einem großen Teil Männer, dennoch waren im 16. Jahrhundert, besonders in Adelskreisen in Frankreich und Italien, viele Frauen gut ausgebildet und durchaus fähig, sich ihre Meinung zu bilden und sich schriftlich zu Wort zu melden. Marie Dentière plädiert in ihrem Brief dafür, dass die Frauen selbst die Bibel lesen und in theologischen Fragen einen eigenen Standpunkt vertreten:
„Und wie sehr uns auch verboten sein mag, in öffentlichen Versammlungen und Kirchen zu predigen (1.Kor.14,24), so ist es uns doch nicht verboten, zu schreiben und eine die andere zu ermahnen, in aller Liebe.“[26]
Die Verfasserin scheint eine Parallelgesellschaft vor Augen zu haben, in der die Frauen sich gegenseitig trösten und stärken.
Im Titel kündigte Dentière an, gegen Türken, Juden, Ungläubigen, falsche Christen, Wiedertäufer und Lutheraner zu schreiben. Tatsächlich geht sie gegen zweierlei Gruppen von Geistlichen vor. Die eine Gruppe bilden die Kleriker am Hofe von Marguerite de Navarre:
„Was fürchten Sie die Kardinäle und die Bischöfe, die Sie an ihrem Hof haben…Wenn sie ihre Sache nicht als eine gute, von Gott angeordnete vertreten wollen, ertragen Sie, dass sie über Sie bestimmen? Wir (scil. die Frauen) sagen das Gegenteil, mögen sie es beweisen. Wir wollen es darlegen, sollen sie sich mit der Heiligen Schrift verteidigen…Haben wir zwei Evangelien, eins für die Männer und eins für die Frauen? ...Sind wir nicht eins in unserm Herrn? (Gal.3,28)“[27].
Hier sind es ohne Zweifel katholische Geistliche, die die Verfasserin als frauenverachtend angreift und von ihnen verlangt, auch den Frauen Rede und Antwort zu geben. Anscheinend fühlt Marie Dentière sich theologisch so sattelfest, dass sie jeder Zeit bereit ist, mit den Prälaten zu disputieren. Die andere Gruppe Geistlicher, die sie scharf angreift, sind die Pastoren in Genf, die Calvin und Farel vertrieben haben. Marie Dentière ist ganz klar auf der Seite der verjagten Reformatoren. Einen offenen Brief an die Königin mit einer angekündigten Polemik gegen katholische Geistliche konnte sie nicht senden. So darf man die Vermutung wagen, dass mit den erwähnten „Juden“ die katholische Kirche mit ihren Zeremonien und Regeln gemeint war und mit den „falschen Christen“ die Genfer Pastoren, die ohne Calvin und Farel das religiöse Leben der Stadt regelten. Diese Kritik an den reformierten Geistlichen war wohl der Grund für ihr Schreibverbot.
Dentières eigentlicher Beitrag zur Geschlechterdebatte steht in der „Verteidigung der Frauen“. Biblische Frauengestalten nennt sie als gute Beispiele für alle Frauen, sowohl auf Grund ihrer Tugenden als auch ihres Glaubens und ihrer Lehre:
„Es sind nicht nur Verleumder und Gegner der Wahrheit, die uns allzu großer Kühnheit und Waghalsigkeit beschuldigen, sondern auch Gläubige, die sagen: die Frauen sind zu kühn, indem sie sich schriftlich über die Heilige Schrift austauschen. Denen kann man in aller Ruhe antworten, dass alle diejenigen [scil. Frauen], die geschrieben haben und die in der Heiligen Schrift bewandert sind, nicht als zu waghalsig gelten; vor allem weil mehrere in den Heiligen Schriften lobend erwähnt werden, sowohl für ihre Tugenden, ihre Haltung, ihre Gesten, ihr Beispiel, als auch für ihren Glauben und ihre Lehre.“[28]
Nach ihrer Aufzählung der biblischen Frauen, unter welchen die Samariterin, die „über Jesus und sein Wort“ predigte, und die Frauen am Grab, „denen er aufgetragen hat, es [scil. die Auferstehung] den anderen zu sagen, zu predigen und zu verkünden“, nicht fehlen, fährt Marie Dentière fort: „Und, egal wie viel Unvollkommenheit es auch bei den Frauen geben mag, sie wurden trotz der Männer nicht davon ausgeschlossen“[29].
Man fragt sich, wovon sie nicht ausgeschlossen wurden, und der Antwort kann sein, dass sie von der Heilsbotschaft nicht ausgeschlossen wurden, wohl auch, und dies ist ein radikaler Neuansatz: von Predigt und Verkündigung! Auch wenn die Verfasserin mehr oder weniger zähneknirschend akzeptiert, dass sie nur für andere Frauen die Heilige Schrift auslegen darf, ist dieser Anspruch doch bahnbrechend.
Die fehlende Bildung der Frauen war meistens die Begründung für das alleinige Predigeramt der Männer. Eine Nonne wie Jeanne de Jussie war z.B. nicht im Stande, fehlerfrei Latein zu schreiben[30]. Wir wissen nicht, ob Marie Dentière sich die notwendige damalige Bildung in Sprachen für die Exegese, Latein[31], Griechisch und Hebräisch angeeignet hatte, aber sie ließ ihre Tochter eine Ausbildung in Hebräisch zukommen, und wer Hebräisch konnte, würde man annehmen, sei des Griechischen mächtig.
Ob nun Marie Dentière der Tochter die Ausbildung gab, die sie selbst nicht hatte, oder ob sie ihre Töchter dasselbe gönnte, was sie sich erarbeitet hatte, können wir nicht mehr feststellen. Die zweite Tochter aus der Ehe mit Robert Simon schrieb eine kleine hebräische Grammatik, und die stolze Mutter hat sie Marguerite von Navarre mit dem Brief zugeschickt, damit deren Tochter Jeanne d´Albret daraus lernen könnte, und auch, um der jungen Verfasserin Mut zu machen, die Grammatik in Druck zu geben:
„…Und auch um meinem kleinen Mädchen, Ihrem (Paten)Töchterchen, Mut zu machen, ist eine kleine hebräische Grammatik, die sie auf Französisch geschrieben hat, zum Drucken zu geben – zur Benutzung und zum Nutzen der anderen jungen Mädchen. Und in erster Linie für meine Prinzessin, Ihre Tochter, an die sie gerichtet ist. Denn, wie Sie wissen, ist das weibliche Geschlecht schamhafter als das andere, und das nicht ohne Grund. Denn die Buchstaben [scil. Literatur überhaupt] sind ihnen bisher so sehr verborgen geblieben, dass sie sich nicht trauten, ein Wort zu sagen.“[32]
Marie Dentières gut ausgebildete Tochter heiratete später den Professor in Hebräisch an der Universität Lausanne. Ihr Mann, Jean Raymond Merlin, wurde 1563 nach Frankreich zu Jeanne d´Albret gesandt. Diese hatte gerade ihren Gemahl, Antoine de Bourbon, verloren und sich am Weihnachtstag 1560 offen zum reformierten Glauben bekannt. 1563 begann sie, den reformierten Glauben in ihren Gebieten um Béarn einzuführen.[33]
Zurück zu Marie Dentière: Das Zitat zeigt, dass sie, wie alle Reformatoren, der Überzeugung war, Ausbildung sei der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilnahme, zum öffentlichen Auftreten und zu verlässlicher Bibelauslegung. Als Calvin 1559 seine Akademie in Genf gründete, erhielten nur die Jungen diese Chance. Die Mädchen erhielten keine Schulbildung über die Grundschule hinaus, sofern sie nicht zu Hause unterrichtet wurden.
Trotz Dentières Verteidigung Calvin in ihrem „sehr nützlichen Brief“, scheint es, dass sie sich nicht unkritisch gegenüberstanden. 1546 nahm Dentière Anstoß an Calvins langer Robe, in der er wie auch Farel, Beza und Knox auf dem Genfer Reformationsdenkmal abgebildet ist. Ihre Kritik verbreitete Dentière überall in Genf. Als Calvin[34] sie daraufhin ansprach, lachte sie und sagte, er sei entweder unpassend für die Kirche gekleidet, oder er wisse nicht, dass man sich vor den falschen Propheten in langen Roben in Acht nehmen müsse.
Eine kurze Diskussion über Schriftbelege für diese kühne Behauptung folgte, und da Marie Dentière ganz unverfroren zwei Bibelverse vermischte, fühlte Calvin sich bestätigt in der Annahme, sie wisse nicht, wovon sie spreche. Zum Schluss sagte Marie Dentière dem Reformator, er übe Tyrannei aus und verbiete die freie Rede. Calvin war offenkundig auf seine Selbstbeherrschung stolz und wahrte die Höflichkeit. Danach ging Marie Dentière, die zu dieser Zeit mit ihrem Mann in Massongy lebte, zurück zu ihrer Gastgeberin, einer Witwe, die Tisch und Bett mit ihr teilte, „weil sie schlechtes von den Pastoren sprach“[35]. Anscheinend gab es in Genf eine Gruppe gleichgesinnter Frauen, die sich um sie kümmerten und ihr Gastfreundschaft zeigten.
Lange Roben sagten etwas über ihre Träger aus, wusste auch Jeanne de Jussie: „Schon 1526 verließen 52 vornehme Bürger, „reiche Kaufleute und Leute mit langer Robe“, die Stadt“[36]. Die vornehmen Leute verließen 1526 Genf und schon 1546 hatte sich eine neue Oberklasse aus Herren in langen Roben ausgebildet. Genau wie Katharina Zell in Straßburg[37] sah Marie Dentière hier einen Verrat an der ursprünglichen Reformation.
Am Ende versöhnten sich Marie Dentière und Calvin wohl doch miteinander. 1561 gab ein Drucker in der Normandie ein Büchlein heraus[38], das eine Predigt von Calvin enthält, zusammen mit einem Vorwort von Marie Dentière und Auszügen aus dem Buch des Kirchenvaters Cyprian „Von der Kleidung der Jungfrauen (De habitu virginum)“, übersetzt ins Französische und mit einem Zitat aus Spr. 11,22: „Ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Ring durch die Nase“.[39]
Hier geht es um reformierte Kleiderordnung, und vor allem um Schminke, die damals sowohl Männer als auch Frauen trugen. In Frankreich, wo das Büchlein gedruckt wurde, gab es viele Sympathisanten für die Reformation in den höchsten Adelskreisen, die sich standesmäßig elegant kleideten. Die hugenottischen Damen, die von zeitgenössischen (oft katholischen) Berichterstattern für ihre hohe Moral und Frömmigkeit gelobt wurden, wurden gleichfalls für ihre höfische Eleganz im Tanz, in ihren Manieren und in ihrer Kleidung gerühmt.[40]
Dagegen plädierte Marie Dentière in ihrer Schrift für eine „innerweltliche Askese“, um das Ausdruck von Max Weber zu verwenden. Die Jungfrauen bei Cyprian sind Nonnen, aber auch die reformierten Frauen und Männer sollen sich dezent und bescheiden kleiden, und sich nicht schminken. Der Christ und die Christin sollen sich vor dem Teufel in Acht nehmen und alle Laster scheuen, in diesem Fall könnte der Anfang von vielen Lastern modische Kleidung und Schminke sein: „Also, unter den heute herrschenden Lastern nehmen das Schminken und die übertriebene Kleidung eine viel zu hohe Bedeutung ein.“[41]
Wir sind – sowohl Männer wie Frauen - in Gottes Ebenbild geschaffen, und zerstören dieses Ebenbild durch Schminke und modische Aufmachung:
„Kurzum, die Schminkerei ist nichts anderes als eine Verkehrung der Natur, oder – vielmehr noch – ein gegen Gott geführter Kampf. Gott will in keiner Weise, dass seine Werke derart verkehrt oder gegen ihre Bestimmung gerichtet werden. Überflüssig zu sagen, dass die heißt, Gottes Ebenbild, das wir in uns tragen, auszulöschen. So wie der heilige Doktor…Augustin betont, dass das Ebenbild Gottes wichtiger ist als die äußeren körperlichen Merkmale.“
Auf die inneren Werte kommt es an! Die Wohlhabenden können sich elegante, modische Kleidung leisten, aber das ist nicht der rechte Gebrauch von Gottes Gaben:
„Gott will, dass wir die Dinge gebrauchen, die er uns zu Besitz und sinnvollem Gebrauch gegeben hat: man muss sie zu guten und gewinnbringenden Zwecken einsetzen, und zu solchen, die er befohlen hat.“
Am Ende nimmt Dentière ganz freundlich Bezug auf die Predigt Calvins:
„Lasst uns auf den Apostel hören, was er Timotheus sagt, und auf den, der diesen Bibeltext öffentlich gepredigt hat, und der für seine reine Lehre es verdient hat, unter allen den Pastoren und treuen Prediger, die es heute in Europa gibt, gehört zu werden“.
Dieses Buch wurde 1561, im Todesjahr von Marie Dentière, herausgegeben. Wurde sie im Alter milder? Oder war ihre Kritik an Calvin nicht allzu ernst gemeint?
Marie Dentière war die einzige Frau, die sich damals theologisch äußerte. Es gab viele Frauen, die die reformierte Lehre annahmen, die für diese Lehre sogar in den Tod gingen, die für diese Lehre kämpften, aber es gibt – nach unserem Wissensstand - nur eine Frau, die über theologische Fragen schrieb. Marie Dentière war die einzige, die die Bildung und das Wissen hatte, sich ihre eigene Meinung zu bilden und diese auch anderen Frauen mitzuteilen. Sie hat es verdient wieder bekannt zu werden.
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:
[1] Katharina Zell war Pfarrfrau in Straßburg. Sie schrieb über ihre Ehe und die Reformation in Straßburg. Argula von Grumbach war eine Adlige, die an die Universität Regensburg schrieb. Beide Autorinnen hatten mit erheblichen Schwierigkeiten seitens ihrer Umwelt zu kämpfen.
[2] Für die folgende Ausführung stütze ich mich auf Isabelle Graesslé: Vie et Legendes de Marie Dentière, Bulletin du centre protestant d´études, Genève 2003.
[3] Doris Brodbeck(Hrsg.): Dem Schweigen entronnen – Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts, Würzburg 2006, 297.
[4] Jeanne de Jussie: Petite Chronique, Einleitung, Edition, Kommentar von Helmut Feld, Mainz 1996, XXVIII-XLVIII.
[5] Chronique a.a.O. (Feld 1996). Auszüge mit Übersetzung in Brodbeck 2006, 279-303.
[6] Brodbeck 2006, 296. Die Übersetzung macht sich manchmal dem Text gegenüber selbstständig.
[7] Feld 1996, 238:“…suis venue à la vraye lumière de verité” –„...ich bin zum hellen Licht der Wahrheit gelangt“.
[8] Feld 1996, 277: “Ha, genesue, aceste heure tu pert tout ton bien et lumiere” – “Ach, Genf, in dieser Stunde verlierst du all dein Gut und Licht.” Die Devise von Genf ist immer noch: „Post tenebras lux“.
[9] Brodbeck 2006, 296-298. Feld 1996, 238-9. Feld hat den besseren Text.
[10] In Nürnberg führte Caritas Pirckheimer einen ähnlichen Kampf um den Erhalt ihres Klosters, vgl. „Die Denkwürdigkeiten des Caritas Pirckheimer“ hrsg. von Josef Pfanner (Caritas Pirckheimer – Quellensammlung, 2. Heft) Landshut 1962. Straßburg war toleranter, zwar ließ im Mai 1525 der Rat alle Schwestern von ihrer Verwandtschaft abholen, erlaubte dann aber im September desselben Jahres zurückkehrenden Nonnen in zwei Klöstern zu bleiben. Einziges Problem war die geistliche Betreuung, denn der Rat ließ Bucer und Hedio predigen, was bei den Nonnen gar nicht gut ankam. Am Ende sangen sie selbst die Messe. Miriam U. Chrisman: „Women and the Reformation in Strasbourg 1490-1530“, in: ARG 63, 1972, 143-167, bes. 165f.
[11] Marie Dentière: La Guerre et Deslivrance de la ville de Genesve, Genf 1881, p. 35-72 (Mémoires et documents publiés par la Société d´histoire et d´archéologie de Genève, Bd. 20, Genf 1879-1888, p. 309-384).
[12] Graesslé 2003, 25. Für die Übersetzungen danke ich Pastor i. R. Gottfried Wehr.
[13] A.a.O. 26.
[14] Anthoine Fromment: Les Actes et gestes merveilleux de la Cité de Genève, ed. G. Revilliod, Genf 1854.
[15] Graesslé 2003, 11, und n. 39.
[16] In der Sekundärliteratur zweifelt nur Mary McKinley die Verfasserschaft Dentières an: Marie Dentière: Epistle to Marguerite de Navarre and Preface to a Sermon by John Calvin. Ed. Mary McKinley. The Other Voice in Early Modern Europe, University of
[17] L. Dacheux: Annales de Sebastian Brant, in: BSCMA, Strasbourg 1899, II. série, Bd. 19, 85f: „…alsdann woll s.F.G. fürfaren und damit inen ein geschrifft, eins heißen inhalts angezeigt, so mster Matthisens frauw s.F.G. zugeschickt und betrotzt copien zu schicken. Erkant:…mit mster Matthisen reden, daß er darob und daran by siner frauwen sey, daß die angestellt geschrifft hinderhalten und in keinen weg wolle drucken lassen, dann m.H.H. irs schreiben gar kein gefallen haben.“ S.F.G. ist der Bischoff, und m.H.H. sind die Ratsherren in Straßburg.
[18] Épitre très utile faite et composée par une femme chrétienne de Tornay, envoyée à le Reine de Navarre, soeur du Roi de France, contre les Turcs, Juifs, Infidèles, Faux Chrétiens, Anabaptistes et Luthériens. Ein Teil ist veröffentlicht in: A.-L. Herminjard: Correspondance des Réformateurs dans les pays de langue française, Bd. 5, Nr.785, Genf 1878, 295-305. Brodbeck 2006, 304-320, mit deutscher Übersetzung. Thomas Head: „A propagandist for the Reform: Marie Dentière”, in: Katharina M. Wilson: Women Writers of the Renaissance and Reformation,
[19] Herminjard 1878, 304, Anm. 23.
[20] Wilson, Katharina M.: Women Writers of the Renaissance and Reformation, Athens, Ga. 1987; Roelker, Nancy M.: ”The Appeal of Calvinism to French Noblewomen in the Sixteenth Century”, in: The Journal of Interdisciplinary History, vol. II, Number 4, 1971/2, 391-418; Roelker: “The Role of Noblewomen in the French Reformation”, ARG 63, 1972, 168-194; Zimmermann, Margarete: Salon der Autorinnen, Berlin 2005.
[21] Roelker, 1972, 173.
[22] Wilson 1987, Zimmermann, 2005, 135-138.
[23] Roelker 1972, 175.
[24] Graesslé 2003, 4-5.
[25] Graesslé 2003, 6.
[26] Brodbeck, 2006, 314.
[27] Brodbeck 2006, 315f.
[28] Graesslé 2003, 27, Übersetzung von Gottfried Wehr und Brodbeck 2006, 316f.
[29] Brodbeck 2006,317f.
[30] Feld 1996, XLIII.
[31] Sie hatte nicht nur sehr gute Bibelkenntnisse, sondern konnte auch richtig aus dem kanonischem Gesetz zitieren, Graesslé 2003, 11.
[32] Brodbeck 2006, 320; Graesslé 2003, 11f.
[33] Roelker 1971/2, 399f, 416.
[34] Ioannis Calvini opera, Bd. 12, Sp. 378, Braunschweig 1874.
[35] Graesslé, p.16.
[36] Feld 1996, XXXII.
[37] Zell, Katharina: Ein Brief an die ganze Bürgerschafft der Stadt Straßburg von Katharina Zellin, in: J.C. Füßlin: Beyträge zur Erläuterung der Kirchen=Reformations=Geschichten des Schweitzerlandes, Bd. V, Zürich 1753.
[38] Hornus, Jean-Michel und Peter, Rodolphe: „Calviniana rarissima du fonds Jean Louis Médard à la Bibliothèque Municipale de Lunel“ Études Théologiques et Religieuses 54/1 (1979), 51-68.
[39] Graesslé 2003, 15f.
[40] Roelker 1971/2, 409: „The Huguenot ladies so much admired for their moral character and piety by contemporary writers (mostly Roman Catholic) are often praised in the same sentence for their skills in courtly accomplishments such as dancing and flirtation, and sometimes for their elegance of dress as well.”
[41] Graesslé 2003, 29ff. Übersetzungen von Pastor i.R. Gottfried Wehr.