„Herr, unser Gott! Wir danken dir, daß dein Wort in diese Welt und auch zu uns gekommen ist. Erhalte uns, daß wir seine Hörer bleiben und täglich neu werden. Gib, daß es aufwecke die Schlafenden, daß es tröste die Betrübten, daß es zurechtweise die Irrenden, daß es unser aller Sünden bedecke und uns alle aufrufe zu einem Leben in der Liebe und in der Hoffnung, das dir wohlgefällig sei.“ (Karl Barth)1
Liebe Gemeinde,
der heutige Sonntag fällt in die Vorpassionszeit. Und er fragt nach unserem Hören des Wortes Gottes in unserer Zeit. Es ist nicht selbstverständlich, dass, wer Ohren hat, auch hört. Ich denke an manche Schüler, die ich unterrichtet habe und unterrichte. Ich denke an unsere Tochter, die jetzt gut drei Jahre alt ist, es mit dem Hören aber manchmal nicht so hat.
Der heutige Predigttext wird vielen von euch nicht bekannt sein. Das ist ein Grund, warum ich ihn ausgewählt habe. Er steht im Buch Ezechiel, im Alten Testament. Ezechiel war ein „Priester und wurde im Jahr 597 nach der ersten Eroberung Jerusalems nach Babylon deportiert.“ Das hat sein Welt- und Gottesbild erschüttert. „Vier Jahre später (593) erlebt er dann seine Berufung zum Propheten, die in den Kapiteln 1-3 in ungewöhnlicher Breite geschildert ist.“2 Daraus lese ich einen kleinen Abschnitt vor. In der Züricher Bibelübersetzung ist dieser Abschnitt mit „Die Sendung Ezechiels“ (Ez 2,1-5.8-10;3,1-3) überschrieben:
Und er sprach zu mir:
„Du Mensch, stelle dich auf deine Füße, und ich will zu dir sprechen!“
Und sobald er zu mir sprach, kam Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte den, der zu mir sprach.
Und er sprach zu mir:
„Mensch, ich sende dich zu den Israeliten, zu Nationen3, die sich auflehnen4, die sich aufgelehnt haben gegen mich. Sie und ihre Vorfahren5 haben mit mir gebrochen6, so ist es bis auf den heutigen Tag. Und zu den Nachkommen mit verhärteten Gesichtern7 und hartem Herzen, zu ihnen sende ich dich, und du wirst ihnen sagen: ‚So spricht Gott der Herr!‘ Und sie - mögen sie hören oder es lassen, denn sie sind ein Haus der Widerspenstigkeit! -, sie sollen wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.“ (…)
„Du aber, Mensch, höre, was ich zu dir rede. Sei nicht widerspenstig wie das Haus der Widerspenstigkeit, öffne deinen Mund, und iss, was ich dir gebe.“
9 Und ich sah, und sieh: Zu mir hin war eine Hand ausgestreckt, und sieh, in ihr war eine Schriftrolle. Und er breitete sie vor mir aus, und sie war auf der Vorderseite und auf der Rückseite beschrieben, und auf ihr aufgeschrieben waren Klagen und Seufzer und Wehrufe.
Und er sprach zu mir:
„Du Mensch, iss, was du vorfindest, iss diese Schriftrolle, und geh, sprich zum Haus Israel!“
Und ich öffnete meinen Mund, und er ließ mich jene Rolle essen.
Und er sprach zu mir:
„Mensch, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe!“
Da aß ich sie, und in meinem Mund wurde sie wie Honig, süß.
Ich möchte heute das Hören zum Thema machen, und dafür gliedere ich meine Predigt in zwei Abschnitte: Der erste Abschnitt ist der Situation Ezechiels im Exil gewidmet. Der zweite nimmt unsere Lage in Kirche und Gesellschaft heute in den Blick.
Der Gott Israels ist kein stummer, sprachloser Gott, sondern spricht. Sein Wort macht er wahr, er steht zu seinem Wort. Unzählige Begebenheiten des Alten und Neuen Testaments bezeugen das. Neben den vielleicht bekannteren Propheten Jesaja und Jeremia spricht Gott auch zu dem für uns vielleicht weniger bekannten Propheten Ezechiel. Bevor Gott zu ihm spricht, hat er ihn eine Vision von sich und seiner Herrlichkeit sehen lassen, die ihn zu Boden geworfen hat. Doch wen Gott zu Boden wirft, den richtet er auch wieder auf.8
Ezechiel soll erst hören, dann essen. Was er zu hören bekommt, ist nicht schmeichelhaft. Die Israeliten, die nach Babylon deportiert, also in einem Krieg ihrer Heimat beraubt und in die Fremde entführt wurden, sind freche, widerspenstige, abtrünnige und hartherzige Menschen. Sie scheinen diesen Krieg wohl verdient zu haben. Ihre Vorfahren waren auch schon stur, untreu und ungehorsam. Jetzt sollten wir doch meinen, dass es zwecklos ist, dass Gott einen Propheten ausgerechnet zu solchen Leuten sendet.
Und es stimmt: Während die Botschaft des Propheten Jeremia in Israel etwas bewirken soll, hat Ezechiel eine „gebrochene Erwartung“: Die Wirkung des Wortes Gottes angesichts verhärteter Gesichter und harter Herzen bleibt aus.9 Israel ist Gottes erste große „Liebe“ (Deut 7,7f.; Hos 11,1), doch es scheint, als ob Gott sich an seinen Erwählten die Zähne ausbeißt. Nachdem der Tempel zerstört ist, geht Gott mit Israel in die Fremde, geht mit ins Exil, wo mehrere und fremde Götter angebetet werden. Und doch gilt: Die, zu denen Ezechiel im Namen Gottes spricht, sind schwerhörig.
Der Reformator Johannes Calvin übertreibt, wenn er sagt, die Angesprochenen benähmen sich „wie Hornochsen und wilde Stiere“ und seien „offene Feinde Gottes“ – Calvin weitet das auf die Juden insgesamt aus.10 Eine angemessenere und nicht antijüdische Deutung ist die, dass die Deportierten traumatisierte Menschen sind, also Menschen, die unfähig und oder unwillig sind, zu hören, was Gott ihnen sagt. Wichtig ist nun: Die Ezechielerzählung blickt auf die geschehene Zerstörung Jerusalems zurück.
„Sie nimmt die […] Erfahrungen des antiken Belagerungskriegs und der […] Massendeportationspraxis in sich auf, von deren ungeheuren Schrecken andere textliche, bildliche und archäologische Quellen ausdrücklich zeugen. Die vom Belagerungskrieg Betroffenen erlebten Hunger, Seuche und Schwert […], Kriegsgräuel, Folter, Formen sexueller […] Gewalt, Plünderung und Brandschatzung. Wer deportiert wurde, hatte einen mörderischen Gewaltmarsch über Hunderte von Kilometern zu bewältigen, erfuhr das Dahinsiechen und Sterben von Mitdeportierten, die Zerschlagung von Familien und war schließlich zu einem Leben in völliger Fremde gezwungen, in der Regel ohne Hoffnung auf Rückkehr. Dabei kamen nicht nur die an den Kampfhandlungen Beteiligten, sondern die gesamte Bevölkerung, Frauen wie Männer, alte Menschen wie kleine Kinder, Soldaten wie Zivilpersonen mit traumatisierender Gewalt in Berührung […].“11
Ich frage mich ernsthaft, weshalb Gott Ezechiel zu solchen Menschen sendet. Das hat doch kein Zweck, oder? Es heißt ausdrücklich: „mögen sie hören oder es lassen“. Aber Gott scheint nicht gleichgültig. Wir müssen wissen: Gott kann auch schweigen. Das ist auch ein Glaubenssatz. Ihr habt es vielleicht auch schon erlebt und erlitten, dass Gott schweigt. Aber hier, in unserem Text, da spricht er, spricht er durch Jeremia und d.h.: Er lässt die Traumatisierten, die sich vielleicht schon selbst aufgegeben haben, nicht im Stich. Sie haben ja viel erleiden müssen, Gott schweigt vielleicht nicht nur, vielleicht ist er auch ferne von uns, hat er uns verlassen.
Und fürwahr: Sie haben sein Sprechen, habe seine Gegenwart nicht verdient. Gott hat Israel gerichtet für seine Sünden. Und jetzt kommt das Beste, ihr Lieben: Ezechiel muss eine Buchrolle essen, die süß schmeckt, obwohl sie nur Klagen enthält. Das klingt genauso verrückt, wie die Erzählung vom Sämann, der nicht nur auf fruchtbaren Boden, sondern auch auf Steine und unter Dornen sät – müsste er nicht wissen, dass da gar nichts wächst? Er weiß es, er tut es trotzdem. Obwohl Israel schwerhörig ist, hört Gott nicht auf, mit diesem Volk zu diskutieren, ja zu ringen.
Was hat Israels Schwerhörigkeit mit uns zu tun? Ich möchte zwei Begebenheiten in Erinnerung rufen. Die erste hat mit Deportation zu tun. Das ist ein schlimmes Wort. Hier werden Menschen wie du und ich verschleppt und ausgeschlossen. Ihr kennt bestimmt dieses unselige Wort von der „Remigration“, das nichts anderes als Deportation meint. Ich kann für mich nur sagen: Wer „Remigration“ fordert, ist ein Menschenfeind. Und wer ein Menschenfeind ist, ist nach meiner Erfahrung auch ein Gottesfeind. Hier dürfen wir Christen nicht schweigen. Gott hat auch nicht geschwiegen, weder zu den Menschenfeinden in Babylonien noch zu denen vor seiner Haustür, in Jerusalem.
Zu hochmütigen Priestern, zu Lügenpropheten, zu ungerechten Königen. Gott hat sich nicht den Mund verbieten lassen. Er lässt sich ihn auch heute nicht verbieten. Die Botschaft Ezechiels ist hochaktuell. Fremdenfeindlichkeit ist kein Kavaliersdelikt. Es ist schlicht Sünde, genauso wie Antisemitismus. Warum? Da unser Vater der Gott Israels ist, Fremdenfeindlichkeit im Buch Levitikus und in der Bergpredigt verurteilt wird. Wir, ihr Lieben, sind gegenüber Ezechiel hoffentlich im Vorsprung. Die, mit denen er sprach, waren zu schwer zugänglich, die konnten seine Botschaft kaum ertragen. Wir heute brauchen und sollen nicht wieder in die Irre gehen und zu fremdenfeindlichen Parolen schweigen. Vielleicht tun wir das auch gar nicht. Gut so.
Meine zweite Begebenheit hat mit der sicher von euch schon wahrgenommenen ForuM-Studie zu tun, die auch unserer Kirche viele Missbrauchsfälle nachgewiesen hat. Ja, das ist ein bitterer, ein ganz bitterer Fakt. Da sind Verbrechen geschehen im Raum der Kirche, die ein Schutzraum sein soll. Warum sind diese Verbrechen aber allzu lange verschwiegen worden und warum hat es auch in der evangelischen Kirche so viele Schwerhörige gegeben, die immer nur Stück für Stück Licht in ihr selbstgemachtes Dunkel brachten?
Eine interessante Erklärung kommt von einem Politikwissenschaftler, also von einem Mann mit bewusster Außenperspektive, die für uns sehr hilfreich ist: Er hat gesagt, eines der größten Probleme der Kirchenführer Deutschlands sei es, dass sie ein Verständnis von Rechtfertigung hätten, dass Täter immer schütze und Opfer traumatisiere. Warum? Weil Rechtfertigung in der Kirche verstanden werde als: Gott vergibt doch alle Sünde, wir sind frei.12
Das ist nur die halbe Wahrheit. Ihr kennt es doch auch: Was ist Vergebung ohne Umkehr, was ist Freiheit ohne Verantwortung? Ein scheinbar Außenstehender muss den hohen Theologen im Rheinland, in Berlin und anderswo sagen, dass die Kirche Täter statt Opfer schützt. Die Opfer haben aber Anspruch auf lückenlose Aufklärung. Die Täter sind strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Wer das für einen Widerspruch zum Evangelium hält, kennt das Evangelium entweder gar nicht oder verkennt es. Es ist Zuspruch und Anspruch.
Wir haben vielleicht Bonhoeffers Warnung vor einer billigen Gnade nicht mehr im Ohr, oder sind auf diesem Ohr taub. Gott hat es sich bei der Versöhnung nicht leicht gemacht. Er hat mit dem Tod gekämpft, um uns zu Hoffenden zu machen. Der Preis für unsere Versöhnung, er war sehr hoch. Wenn wir ihm heute nicht endlich gehorsam werden, da dürfen wir uns eines Tages nicht wundern, wenn wir auch zu Schwerhörigen werden.
Wo könnten denn bei uns Gründe für Schwerhörigkeit liegen? In unserem Individualismus, der uns sagt, ich zuerst, danach kommt lange nichts? Vielleicht. Vielleicht liegt es aber an einer Entfremdung vom Nächsten und von mir selbst und so von Gott. Wenn ich bei mir selber sehe, wie anfällig ich und meine Generation, die jüngeren Generationen sind für die sozialen Medien, den Hass, die Unwahrheit, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht, dann wir mir übel. Oder ich denke an meine Abgestumpftheit gegenüber dem, was wir in den Medien, im Fernsehen, in den Nachrichten, in der Zeitung hören und lesen.
Wir wollen Frieden, tun aber nichts dafür. Ich bin sehr froh, wenn Menschen sich nicht zu Hause einigeln, sondern für ihre Anliegen, Rechte und Sorgen auf die Straßen gehen und gegen Unrecht in unserem Land protestieren. Christsein ist etwas Öffentliches, das war es immer. Sei es Ezechiel, seien es die Apostel. Sie gingen raus, von Christentum als Privatsache keine Spur. Gerade wir Christenmenschen haben allen Grund dazu, Gott dankbar zu sein für sein Wort, das er uns hören lässt, damit wir ihm gehorchen. Es kommt ja das Wort gehorchen von hören. Und darum gilt: Wenn wir Christen nicht gehorsam sind, dann können weder wir Gott sehen noch können andere in uns Gott sehen. Ebenso gilt: Wenn wir Christen gehorsam sind, dann können wir Gott sehen und andere Gott in uns.
Wie geht gehorsam? Ein jeder von uns lerne auf den/die andere(n) zu hören. Ein jeder von uns bewähre sich an seinem/ihren besonderen Ort in seiner/ihrer besonderen Zeit. Auf der Arbeit, in der Schule, im Alltag, in der Freizeit, in guten, in schlechten Zeiten. Hier sind wir darauf an-gewiesen, dass uns jemand trägt. Gehorsam sein heißt, ich komme zu einem vorläufigen Ende: Auf einem Weg mit meinen Mitmenschen und mit Gott weitergehen, der er mir weist – und die sie mir weisen. Solche Wege sind hoffentlich nicht festgefahren, sondern überraschend. Das wünsche ich euch.
„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird Herzen und Gedanken bewahren in Christus Jesus. Amen.“ (ZÜ)
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1 Vgl. EG 196.
2 Matthias Albani, Martin Rösel, Theologie kompakt: Altes Testament, 2. Aufl. Stuttgart 2007, 86.
3 Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig, Bd. 3: Bücher der Kündung, Gütersloh 8. Aufl. 1992, 430 spricht von „empörerischen Stämmen“ (Israels).
4 Walther Zimmerli, Ezechiel, in: BKAT, Bd. XIII/1, Neukirchen-Vluyn 1969, 2 übersetzt „aufrührerisch“.
5 Vgl. a.a.O., 9: „Söhne der Exodusgeneration“.
6 Buber/Rosenzweig übersetzen „waren abtrünnig mir“ (a.a.O.)
7 Buber/Rosenzweig übersetzen „starren Antlitzes“ (a.a.O.); dagegen Zimmerli „frechen Angesicht“ (a.a.O., 2).
8 Vgl. Johannes Calvins Auslegung der heiligen Schrift, Bd. IX: Ezechiel und Daniel, hg. v. Otto Weber, Neukirchen 1938, 41.
9 Vgl. Alexander Deeg, Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, 5., erw. Aufl., Leipzig 2021, 180f.
10 Vgl. Anm. 8, 45.47.
11 Ruth Poser, Ezechiel/Ezechielbuch (https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/ezechiel-ezechielbuch; Stand: 29.01.2023).
12 Vgl. Klaas Huizing, „Toxische Traditionen“. Erste Schritte zur theologischen Auseinandersetzung mit der Missbrauchsstudie der EKD, aus: https://zeitzeichen.net/node/10966; Stand: 03.02.2024.