Predigt von Prof. Dr. Andreas Pangritz, gehalten am 13. Mai 2012 in der Antoniterkirche, Köln, im Rahmen der Predigtreihe „Weisheit.
Liebe Gemeinde,
der für diesen Gottesdienst von der Vorbereitungsgruppe vorgeschlagene Predigttext im Rahmen der Reihe zum Thema „Weisheit“ steht im alttestamentlichen Buch der Sprüche, in den Kapiteln 22 und 23. Ich lese ihn in einer eigenen Übersetzung, die Sie auch auf den Handzetteln finden:
(17) Neige dein Ohr und höre die Reden der Weisen,
und richte dein Herz auf meine Erkenntnis!
(18) Denn lieblich ist es, wenn du sie in deinem Leib bewahrst,
sie fügen sich zusammen auf deinen Lippen.
(19) Damit in JHWH [den Ewigen] dein Vertrauen sei,
gebe ich heute dir zu erkennen, ja dir.
(20) Hab ich’s dir nicht vorgestern schon aufgeschrieben,
als Ratschläge und Kunde,
(21) dich die Redlichkeit getreuer Worte kennen zu lassen,
damit du in Treue Antworten erstattest denen, die dich sandten?
(22) Beraube nicht den Schwachen, weil er schwach ist,
und unterdrücke nicht den Elenden im Tor!
(23) Denn JHWH [der Ewige] streitet ihren Streit,
und raubt denen, die sie berauben, das Leben.
(24) Geselle dich nicht mit dem Zornmütigen,
und gehe nicht mit dem Hitzkopf um,
(25) damit du dich nicht an seine Pfade gewöhnst
und eine Verstrickung einholst für dein Leben.
(26) Sei nicht unter denen, die Handschlag leisten,
unter denen, die Bürgschaft leisten für Schulden:
(27) Wenn du nichts hast, um zu zahlen,
wird man dein Bett unter dir wegholen.
(28) Verrücke niemals die Vorzeit-Grenze,
die deine Väter gemacht haben!
(29) Siehst du einen Mann, geschickt bei seiner Arbeit?
Der wird vor Könige sich hinstellen,
vor Niedrige stellt er sich nie.
(1) Wenn du dich setzest, um mit einem Herrschenden zu speisen,
achte, achte darauf, was vor dir ist.
(2) Halte das Messer an deine Kehle,
wenn du zu gierig bist!
(3) Lass dich nicht gelüsten nach seinen Leckereien,
denn das ist trügerische Speise.
(4) Plage dich nicht ab, um reich zu werden,
von deinem Verstand aus lass davon ab!
(5) Fliegen deine Augen darauf – schon ist es weg,
denn es macht sich, macht sich Flügel,
wie ein Geier entfliegt es gen Himmel.
(6) Speise nie von der Speise eines missgünstigen Auges,
lass dich nicht gelüsten nach seinen Leckereien!
(7) Denn wie einer, der in seiner Seele berechnet, so ist er.
„Iß und trink!“ spricht er zu dir,
aber sein Herz ist nicht bei dir.
(8) Deinen Bissen, den du gegessen hast, spuckst du aus,
und deine lieblichen Reden hast du vergeudet.
(9) In die Ohren eines Toren rede niemals,
denn er verachtet die Sinnkraft deiner Worte.
(10) Verrücke niemals die Vorzeit-Grenze,
und dringe nicht in Felder der Waisen ein.
(11) Denn ihr Rechtshelfer ist stark,
er wird ihren Streit gegen dich streiten.
Liebe Gemeinde,
Tischsitten kennen alle Völker und Kulturen, auch wenn sie sich im einzelnen von Land zu Land unterscheiden mögen. Als ich einmal in Schanghai von Kollegen zu einem traditionellen chinesischen Essen eingeladen wurde, kam gegen Ende der Mahlzeit, nachdem eine Delikatesse die andere abgelöst hatte, als Höhepunkt ein ganzer Fisch auf den Tisch, den der europäische Ehrengast nun mit nichts als Eßstäbchen in der Hand zerlegen sollte. Als die Gastgeber die Peinlichkeit meiner Situation erkannten, wurde mir europäisches Besteck gereicht. Doch welchen Schmerz musste ich in den Augen meiner Gastgeber wahrnehmen, als sie sahen, wie ich mich dem schönen Fisch brutal mit Messer und Gabel näherte. Flugs wurde ich aus meiner Lage erlöst, indem nun die chinesischen Kollegen selbst zugriffen, und mit ihren Stäbchen geschickt ganze grätenfreie Stücke aus dem Fisch zupften. So ging es auch. Andere Länder, andere Sitten!
Doch manche Weisheit scheint auch universale Geltung zu haben, auch bei den Tischsitten: „Lass dich nicht gelüsten nach den Leckereien der Herrschenden, denn das ist trügerische Speise!“ So haben wir es gerade im Predigttext gehört. Das klingt nach einer Allerweltsweisheit und soll wohl auch so verstanden werden. Manche mögen sich geschmeichelt fühlen, wenn sie von Hochgestellten, Herrschenden und Regierenden oder auch dem Bundespräsidenten zu einem Empfang geladen werden. Aber wir wissen doch auch alle, wie man sich blamieren kann, wenn man sich in einer ungewohnten Umgebung bewegen soll. Das fängt schon mit den Kleidervorschriften an: Anzug, Frack, das kleine Schwarze oder große Abendgarderobe? Und wer außer den sprichwörtlichen „Schönen und Reichen“ verfügt schon darüber? Es geht hier ja nicht nur um kulturelle Unterschiede, sondern zugleich um Klassengegensätze. Leicht können da kleine Leute im Kreis der Herrschenden auf die Nase fallen. Zudem: Kaum je wird eine solche Einladung uneigennützig sein! Misstrauen ist angebracht.
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Von solchen Allerweltsweisheiten hören wir im biblischen Buch der Sprüche noch mehr. Überhaupt gilt dieses Buch als der Teil der Hebräischen Bibel, der die meisten Beziehungen zur Kultur der altorientalischen Umwelt enthält. Hier wird auf internationalem Niveau argumentiert. In der christlichen Kirche wird dem Buch heute jedoch nur selten Aufmerksamkeit geschenkt, während es in jüdischer Tradition eine große Bedeutung hat. Die Freiheitsliebe aufgeklärter, emanzipierter Christen tut sich offenbar schwer mit moralischen Ratschlägen, wie sie hier gehäuft auftreten.
Das Problem verschärft sich noch in unserem Abschnitt. Hier haben nämlich die Bibelwissenschaftler herausgefunden, dass der Text über weite Strecken ein Vorbild in altägyptischer Weisheit hat, in der sog. „Lehre des Amen-em-ope“, die wahrscheinlich aus dem 11. Jahrhundert vor Christus stammt und erst 1923 aus einem in der British Library aufbewahrten Papyrus veröffentlicht worden ist. Auch Amen-em-ope kennt Mahnsprüche zu den Tischsitten, etwa: „Wenn du Brot isst vor einem hohen Beamten …, schau auf den Napf, der vor dir liegt!“ Auch die Warnung vor Ausbeutung der Armen findet sich schon bei dem ägyptischen Weisheitslehrer: „Hüte dich, einen Elenden zu berauben, gegen einen Schwachen gewalttätig zu sein.“ Ebenso die Warnung vor der Flüchtigkeit des Reichtums: „Wirf nicht dein Herz hinter Reichtümern her …, man hat ihren Ort geschaut, und sie sind nicht mehr dort. Sie haben sich Flügel wie die Gänse gemacht, sie sind zum Himmel geflogen.“ Das ist vom Verfasser des biblischen Sprüche-Buchs fast wörtlich aufgenommen worden, bis in das Bild von den Flügeln des Reichtums – nur dass die ägyptischen Gänse durch einen anderen Vogel ersetzt werden: „Mühe dich nicht ab, um Reichtum zu erwerben … Flüchtig ist er, schaust du nach ihm, ist er weg; plötzlich macht er sich Flügel und fliegt wie ein Geier zum Himmel.“
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Amen-em-opes Weisheiten klingen mehr oder weniger vernünftig, aber was haben sie eigentlich in der Bibel zu suchen? Was haben sie mit der Geschichte Gottes mit seinem Volk zu tun, was mit der Kirche Jesu Christi, was mit unserem Glauben? Kann solche Allerweltsweisheit als Wort Gottes, als seine Anrede an uns verstanden werden?
Hören wir genauer hin! Bei aller Ähnlichkeit sind doch auch Unterschiede erkennbar. Nach Auskunft der Orientalisten wendet sich die Lehre des Amen-em-ope vornehmlich an die professionellen Schreiber, denen ein angemessenes Berufsethos ans Herz gelegt wird. Die biblische Spruchweisheit hingegen richtet sich an alle, an das ganze Volk. Vor Ausbeutung der Armen und vor der Flüchtigkeit des Reichtums warnen die biblischen Sprüche wie der ägyptische Lehrer. Doch hier geht es nicht um spezielle Ratschläge an die Beamten des Pharaos, sondern um ein Modell für die ganze Gesellschaft; sie soll davor bewahrt werden, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht. Und dann fügt die biblische Spruchweisheit noch hinzu, dass auch Bürgschaften für Schulden gefährlich sein können; sie können dazu führen, dass man dem Bürgen noch sein Bett wegnimmt, wenn er nicht zahlen kann – wie aktuell in der Schuldenkrise!
Man kann fragen, ob dies nicht alles vernünftige Erkenntnisse sind, die sich jeder Mensch selbst sagen kann, wenn er nur lange genug nachdenkt. Blicken wir auf unsere heutige Gesellschaft, dann zeigt sich jedoch, dass sich die Zielvorstellung gesellschaftlicher Gerechtigkeit offenbar nicht von selbst versteht. Es muss uns erst gesagt werden. Und hier kommt nun der bemerkenswerteste Unterschied der biblischen Spruchweisheit zur ägyptischen Lehre zum Tragen: Die Weisheit wird nicht nur als Einsicht der menschlichen Vernunft, sondern zugleich als Gebot des Gottes Israels verkündet. Gott selbst wird als Anwalt der Schwachen ins Feld geführt; er wird die Beraubung der Schwachen an den Starken rächen, indem er diesen Räubern ihr Leben raubt. Übrigens kennt auch Amen-em-ope einen Gott, den Mondgott, der den Staatsbeamten in seiner Amtsführung mäßigen soll.
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In unserem Predigttext wird der Gott Israels zweimal an exponierter Stelle unter seinem vierbuchstabigen Namen, mit dem er sich Moses am Sinai offenbart hat, genannt: der HErr (wie Luther den Gottesnamen wiedergibt) oder der Ewige (wie Moses Mendelssohn den Gottesnahmen wiedergibt – in Aufnahme übrigens der französisch-reformierten Tradition, die ihn L’Éternel nennt). Das erste Mal wird der Gottesname schon in der Einleitung des Abschnitts genannt, in dem die Hörer aufgefordert werden, ihre Ohren den Reden der Weisen zu schenken, weil in dem Ewigen die Quelle der Sicherheit, der Grund des „Vertrauens“ zu finden ist. Dann aber – und das ist entscheidend – wird die Warnung davor, den Schwachen zu berauben, ausdrücklich damit begründet, dass der Ewige ein parteilicher HErr ist, der nämlich den Streit der Schwachen selbst streitet, und demjenigen, der ihn beraubt, sein Leben raubt. Es scheint, dass auch in Israel zur Zeit der Bibel die Berufung auf die allgemein-menschliche oder auch natürliche Vernunft nicht ausreichend war, um die Einsicht zu gewährleisten, dass eine Gesellschaft, die auf Ausbeutung der Schwachen beruht, über kurz oder lang zugrunde gehen muss. Ausdrücklich wird für diese Erkenntnis der parteiliche Wille des Gottes Israels als Begründung herangezogen. Wie er solidarisch den Kampf der Schwachen gegen die übermächtigen Starken kämpft, das hat er exemplarisch beim Auszug des Volkes Israel aus dem ägyptischen Sklavenhaus gezeigt. Und diese Erfahrung soll in Israel nicht vergessen werden.
Am Merkwürdigsten erscheint mir diese doppelte Begründung der Weisheit in menschlicher Vernunft und Gotteserkenntnis an der Stelle unseres Textes, wo ein Mahnspruch wiederholt wird, wobei er bei der Wiederholung eine andere Begründung erfährt als beim ersten Mal: „Verrücke niemals die Vorzeit-Grenze!“ Auch hier geht es um die Warnung davor, durch Übergriff auf die Rechte des Nachbarn Reichtum zu mehren und den Schwachen zu schädigen. In einer agrarischen Gesellschaft hängt davon, dass das Land letztlich nicht verkäuflich ist, dass die Grenzen der Grundstücke also nicht verschoben werden dürfen, das Überleben der Armen ab. Daher wird dieser knappe Mahnspruch beim ersten Mal eigentlich gar nicht begründet, weil er sich von selbst zu verstehen scheint: „Verrücke niemals die Vorzeit-Grenze, die deine Väter gemacht haben!“ Was seit alter Zeit sich bewährt hat, soll auch unter veränderten Bedingungen respektiert werden. Warum eigentlich? Ja, warum eigentlich? Sollte es genügen zu sagen: weil es immer so gewesen ist? So kann sich doch keine Wirtschaft entwickeln; so wird ein expandierendes Unternehmen doch nur gefesselt; wirtschaftliches Wachstum wird so gehemmt. Selbst unsere Kirche will ja „wachsen gegen den Trend“. Wie soll das ohne Grenzüberschreitungen zugehen? Doch Vorsicht! Das Wachstum der einen geht doch nur zu oft auf Kosten der anderen.
Und so wiederholt unser Text eben diesen Mahnspruch am Ende noch einmal: „Verrücke niemals die Vorzeit-Grenze!“ Und im Parallelismus des Satzglieder, wird dasselbe noch einmal in anderen Worten gesagt: „In die Felder der Waisen dringe niemals ein!“ Warum nicht? Hier folgt eine eigentümliche Begründung: „Denn ihr Rechtshelfer ist stark“, ihr Anwalt – man könnte auch theologischer übersetzen: ihr Erlöser ist stark –, „der wird ihren Streit gegen dich streiten.“ Ohne dass der Name des Gottes Israels hier ausdrücklich genannt wird, ist doch klar, dass er gemeint ist: Der Ewige ist selbst der Rechtshelfer der Witwen und Waisen, der HErr ist der Erlöser der Elenden und Armen, der ihren Streit gegen die Starken selber streiten will, die die Schwachen entrechten. Er wird, wie wir bereits zu Anfang gehört haben, den Räubern ihr Leben rauben.
Welche Begründung ist stärker, die der Tradition und vernünftigen Einsicht oder die der Gotteserkenntnis? Wir sollten beides nicht gegeneinander ausspielen. Auch unser Text tut das nicht. Dankbar nimmt er die ägyptische Weisheit in Anspruch, wo sie ihm mit Gottes Gebot übereinzustimmen scheint. Und so können auch wir dankbar sein, wenn Menschen außerhalb der Kirche – auch unabhängig von Einsichten des christlichen Glaubens – mit Argumenten ihrer natürlichen Vernunft zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Es gibt auch so etwas wie einen „vernünftigen Gottesdienst“ (Röm 12,1), wie Paulus formuliert hat.
In der jüdischen Tradition ist die Frage diskutiert worden, was größer sei: ein Gebot zu beachten, wenn und weil es vernünftiger Einsicht entspringt oder weil es Gottes Willen entspricht. Als die hohe Schule des Tuns der Weisung gilt die Erfüllung eines Gebots, nur weil es geboten ist; denn dies setzt eine tiefe Vertrauensbeziehung mit Gott voraus. Über vernünftige Gründe kann man streiten. Daher warnt unser Text davor, „in die Ohren eines Toren“ zu reden. Er verachtet ja die Sinnkraft der Worte der Weisheit. Ihm kann man mit Gründen der Vernunft nicht kommen. Gegen die Ohnmacht der Vernunft hilft im Zweifel nur Vertrauen in den Gott, der sich darin als der HErr erweist, dass er Partei nimmt für die Ausgebeuteten und Schwachen und ihre Sache selbst in die Hand nimmt. „Des Höchsten Rat, der macht’s allein, daß Menschenrat gedeihe“ (Paul Gerhardt, EG 497,2). Amen.