Neue Kleider in der Anprobe

Predigt zu Kol 3,12-17 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 15. Mai 2022 (Kantate)

© Pixabay

Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde!

12So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. 16Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Ja, so zieht nun eine andere Kleidung an, ihr, die ihr auserwählt seid, liebe Gemeinde. Was die Gemeindeglieder in Kolossä, einer Kleinstadt ca. 170 km östlich von Ephesus im kleinasiatischen Hinterland, Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. nun anziehen sollen, ist ein ganzer Katalog von Tugenden:

herzliches Erbarmen,
Freundlichkeit,
Demut,
Sanftmut,
Geduld,
Duldsamkeit,
Vergebungsbereitschaft. Darüber kommt noch ein Obergewand: Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
Und dann folgen noch ein paar Aufforderungen:
Der Friede regiere in den Herzen.
Das Wort Christi wohne reichlich unter den Kolossern.
Belehren und ermahnen sollen sie sich.

[Neue Kleider]

Früher war es so: Es gab einen Sonntagsmantel und einen Alltagsmantel. Sonntagsschuhe und Alltagsschuhe.
Die 68er-Generation hat gründlich aufgeräumt mit Kleidervorschriften. Heute finden Sie im Konzert, im Theater, in der Oper die gesamte Bandbreite: von Eleganz bis Gerade-von-der-Couch-Aufgestanden. Wie es euch gefällt. Niemand macht mehr Vorschriften. Die lässig Gekleideten verstehen ihre Kleidung ebenso als Zeichen ihrer Freiheit von Konventionen wie die Eleganten. Nur noch in einem ganz kleinen Teil der Gesellschaft gibt es Kleidervorschriften: bei Adelshochzeiten, wo auf der Einladung der Dresscode steht. Wer keinen Cut hat, muss sich einen besorgen. Vielleicht auch erst mal nachschlagen, was ein Cut überhaupt ist!

Letzte Woche schrieb mir mein Patensohn, der gerade seine Probezeit in einer angesehenen Kanzlei für Umweltrecht bestanden hat, er sei nun auch auf der Homepage zu sehen. Er trägt, wie alle Männer dort, einen einfarbigen Schlips und einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd. Sein Haar ist gerade gescheitelt und sitzt perfekt. Er strahlt Sachlichkeit und Kompetenz aus und wirkt etwa zehn Jahre älter als er ist.
Kleider machen Leute. Die Kleidung hilft, eine bestimmte Rolle auszufüllen. Sie vermittelt nach außen ein Bild.

Aber kann ich mir Tugenden anziehen wie einen Anzug? Und dann noch die Liebe als Obergewand der Vollkommenheit?
Wer bin ich denn? Bin ich nicht die, die angewiesen ist auf die Gnade und Liebe Gottes? Auf den, der am Ende gerade zieht, was bei mir krumm ist? Können wir perfekte, vollkommene Christinnen und Christen werden, indem wir uns herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, Duldsamkeit, Vergebungsbereitschaft und als Obergewand die Liebe anziehen? Wer bin ich denn? Ich möchte den sehen, dem das gelingt. Das neue Kleid der Erlösten anzuziehen und erlöst zu sein. Und dann noch als Imperativ: So zieht nun an herzliches Erbarmen!

Nein. Keine Kleidervorschriften. Wir wissen zu genau: Es gibt Wölfe im Schafspelz. Auch unter Christen. Und deswegen wissen wir Kleider und Leute zu unterscheiden.

[Wer bin ich denn?]

Der Verfasser redet die Kolosser so an: Ihr, als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten… Würde er auch mich so anreden? Ich nehme an: Die Kolosser waren keine besseren Menschen als wir heute. Sie lebten ihr Leben. Manchmal gelingt etwas, manchmal scheitern wir. Die Kolosser sind Christen, die versuchen, in der Nachfolge Christi zu leben. Wie wir.

Sind wir also die Auserwählten Gottes, die Heiligen und Geliebten? Wir sprechen in der Regel nicht mehr so bombastisch und aufgeladen. Die Reformierten allemal nicht. Aber es ist ja ein Unterschied, ob da einfach steht: ihr, die ihr getauft seid. Oder: ihr, die ihr allen möglichen Irrlehrern folgt. Oder: ihr, die ihr euer Bestes gebt. Oder: ihr, die ihr Sünder und Gerechte zugleich seid.

Die Anrede sagt, was Christen sind. Auserwählt, weil getauft auf den Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Zugehörig zur Gemeinschaft der Christen. Heilig, nicht weil sie oder wir so fromm sind, sondern weil wir zur Kirche gehören als der Gemeinschaft der Heiligen, wie das Philipp Melanchton in das Augsburger Bekenntnis geschrieben hat. Und geliebt. Geliebt von Gott.

Dass das in der Anrede so vollmundig steht, ist ganz gut. Denn es ist etwas, was wir nicht unbedingt von uns selber sagen würden: auserwählt, heilig, geliebt. Umso besser, dass es ein anderer sagt und in Erinnerung ruft. Auch die Christen sind Kinder Gottes, hinzugekommen zum Volk Gottes durch Jesus Christus. Geliebte Kinder Gottes.

Und als solche Erwählten, Heilige, Geliebte, als solche sollen wir andere Kleidung anziehen. Zieht an – da muss kein Wolf im Schafspelz dabei herauskommen. Es könnte sein, dass die andere Kleidung zu mir passt. Dass ich nur nicht d‘rauf gekommen bin, weil ich so gerne anbehalte, was mir vertraut ist. Für neue Kleider braucht es manchmal Mut. Jemand der sagt: Zieh das mal ruhig an. Das passt zu dir. Das passt zu deinem neuen Status. Auch mein Patensohn hat den Anzug und das weiße Hemd und die Krawatte nicht von sich aus angezogen. Jemand hat gesagt: Das bist du jetzt: einer, der kein Student mehr ist. Einer, zu dessen Können die Kleidung passen soll. Einer, der die studentische Lebensform hinter sich gelassen hat. Und ja: älter bist du auch geworden.

Was haben Christen hinter sich gelassen? Wenn es nach dem Verfasser des Kolosserbriefes geht, dann wohl das Gegenteil von all den Tugenden, die im Predigttext genannt sind. Das Alte steht ein paar Verse vorher: 8Nun aber legt auch ihr das alles ab: Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem Munde; 9belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen 10und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat. Es geht also nicht um Ankleiden, sondern um Umkleiden. Herzliches Erbarmen statt Zorn. Freundlichkeit statt Grimm. Demut statt Bosheit. Sanftmut statt Lästerung. Geduld statt schandbarer Worte. Ertragen und vergeben statt belügen.

[Anprobe]

So wird ein Schuh draus. Ich glaube zwar nicht, dass die Laster, die abgelegt werden, ein Zeichen der Nichtchristen sind und die Tugenden ein Zeichen der Christen. Darum geht es auch nicht. Es geht bei dieser Umkleide-Aufforderung um eine bewusste Umkehr. Ein Richtungswechsel. Nicht mehr. Nicht weniger.

Und schließlich: Zum Umkleiden bedarf es der Anprobe. Mag sein, dass da noch nicht alles passt. Man muss vielleicht auch hineinwachsen. Oder sich gewöhnen. Mag sein, die neuen Kleider zwicken hier und da. Müssen etwas weiter gemacht werden.

Der Verfasser des Kolosserbriefes aber ist gewiss: Der alte Mensch ist ausgezogen. Neue Kleider braucht der neue Mensch. Neue Kleider, die spiegeln, was er jetzt ist. Ein geliebtes Kind Gottes. Und weil er das ist, darf auch ruhig ein bisschen göttliches Glitzern sichtbar sein. Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Vergebung, Nachsicht, Geduld. Nicht mehr. Nicht weniger.

Denn so lässt sich der Predigttext auch lesen: keine Kleidervorschrift, sondern eine Ermutigung zur Anprobe.

Amen.


Bärbel Husmann