... Noch ist weithin bekannt, dass nach dem christlichen Bekenntnis Gott in Christus Mensch geworden sei. Doch die eigentliche Bedeutung dieses Geschehens scheint kaum noch bewusst zu sein. Wenn von Gottes Menschlichkeit die Rede ist, wird dies gern als Ausdruck dafür genommen, dass er uns nicht fremd ist. Vielmehr sei er uns so nah, wie Menschen sich gegenseitig nahe sind. Weil wir das kennen, fühlen wir uns gleichsam mit Gott auf gleicher Augenhöhe. Es ist wohl diese besondere menschliche Sympathie, die dem Weihnachtsfest so eine unvergleichlich ungebrochene Akzeptanz gesichert hat.
In unseren unmittelbaren Nachbarreligionen stößt diese Vorstellung von dem als Mensch in Erscheinung tretenden Gott auf entschiedene Ablehnung. Manches von dem, was Juden und Muslime gegen diese Vorstellung vortragen, sollte Christen zu denken geben. Sie befürchten eine Vermenschlichung Gottes. Sie sehen die unantastbare Ehre Gottes angegriffen, wenn Jesus dazu benutzt wird, sich ein Bild von Gott zu machen, und erinnern uns an die Weisheit des Bilderverbots. Es befremdet sie, wenn Gott in Jesus greifbar wird als eine diesseitige Wirklichkeit.
Es stellt sich die Frage, ob wir ihnen nicht allzu viel Anlass zu diesen Missverständnissen geben. Solange die Ansicht vorherrscht, es gäbe durch das Auftreten Jesu nun über den Menschen eine unmittelbare Begegnung mit Gott, kann den Einwänden nicht wirklich etwas entgegen gehalten werden. Wer sich Gott gar zu seinem sympathischen Kumpel macht, wird kaum der Gott gegenüber zu erwartenden Ehrfurcht gerecht werden können. Wenn auch nur der Anschein besteht, in Jesus sei ein Mensch gleichsam vergottet worden, wird die Skepsis von Juden und Muslimen auf der ganzen Linie bestätigt. In diesem Sinne sah auch Luther in der Anpassung Gottes an den Menschen eine Vernichtung Gottes (annihilatio Dei).
Das Neue Testament spricht nicht von der Menschwerdung Gottes, sondern davon, dass das Wort Fleisch geworden sei (Johannes 1). Damit wird eine allein im Wesen Gottes begründete besondere Bewegung hin auf den Menschen bezeugt. Nicht ein Weg von „unten“ nach „oben“ wird eröffnet, sondern es bleibt dezidiert bei der Initiative Gottes. Es geht um eine Zuwendung Gottes zum Menschen, die jeden denkbaren Vorbehalt auf der Seite Gottes ausschließt.
Gott behält sich dem Menschen gegenüber nichts vor, die Entschlossenheit seines Versöhnungswillens ist bedingungslos. Gott lässt jeden Abstand von den Menschen hinter sich, um ihnen einen Glauben zu ermöglichen, der von allen eigenen Ambitionen absehen kann und sich tatsächlich allein der Ehre Gottes zur Verfügung stellt. Gott geht so entschieden und konsequent auf den Menschen zu, damit der Mensch sich nicht an sich selbst verliert, sondern in seiner Menschlichkeit dazu befreit wird, sich Gott um seiner selbst willen zuwenden zu können. Es geht um die, wohlgemerkt, am Kreuz an ihr Ziel kommende Sympathie Gottes für den Menschen, in der er dem Menschen zu seiner wahren Menschlichkeit verhilft.
Quelle: zeitzeichen Dezember 2006