Meine Freiheit leb' ich nicht

Mittwochs-Kolumne von Barbara Schenck

Freiheit, das ist nicht mein Thema, dachte ich. Die Leidenschaft, mit der unser Bundespräsident die "Kultur der Freiheit" preist, reißt mich nicht mit und auch nicht der Reformationsdekadenjubel rund um die Freiheit eines Christenmenschen. Warum dann ein Kolumne zum Thema? Eine Geschichte ist schuld daran.

Lawrence Kushner erzählt von den beiden Männern Reuwen und Schimon, die mit dem Volk Israel aus Ägypten herausziehen. Als sie durch das geteilte Schilfmeer gehen, bemerken sie nicht die Wände aus Wasser links und rechts. Sie schauen nicht nach oben, sondern nach unten. Der Boden unter ihren Füßen ist schlammig:
"Huch", sagte Reuwen, "hier ist überall Schlamm!"
"Igitt", rief Schimon, "meine Füße sind voller Schlamm!"
"Wie scheußlich!" antwortete Reuwen. "Als wir Sklaven in Ägypten waren, mussten wir Ziegel aus Lehm machen, und der Lehm war genauso wie dieser Schlamm hier!"
"Ja", erwiderte Schimon, "es gibt keinen Unterschied zwischen der Sklaverei in Ägypten und der Freiheit!"
Verrückt, aber ich bleibe auch am Schlamm hängen. Am Fuß haftet er nicht, er sitzt im Kopf. Da ist die Schranke, die mein Denken blockiert. Sie heißt "Der Wunsch zu gefallen". Ich möchte, dass meine Texte gelesen werden, und bereits bevor ein Wort online geht, ahne ich, was angesagt ist und was nicht. Nach der Veröffentlichung ist die Wirkung dann dank "Gefällt-mir-Button" und anderer technischer Zählweisen einfach abzulesen. Kaum merklich drängen sich im Kopf der Autorin Themen auf, die gefragt sind, Meinungen, die nicht anecken. Den Leuten aufs Maul zu schauen endet in einem Reden nach ihrem Mund. Brauchen wir nicht alle etwas Anerkennung?
Was nützt die Meinungsfreiheit, die politische Freiheit, die Glaubensfreiheit, wenn ich dann doch einem inneren Zwang erliege und mein Denken der Mehrheitsmeinung angleiche?
Zurück zur Geschichte: Kaum der Fronarbeit entronnen, vergleichen Reuwen und Schimon den Schlamm auf dem Weg ins gelobte Land mit dem Lehm für die Ziegel ihrer Knechtsarbeit, sprich: die Sklaverei mit der Freiheit. Ist das zum Heulen oder zum Lachen? Absurd? Lächerlich? Dumm? Menschlich? Trotzdem ist da dieser Schlamm. Und ich würd' gern von der Schranke in meinem Kopf befreit. Das ist meine Gebetsbitte.

Quelle:
Kushner, Lawrence, Das Buch der Wunder. Jüdische Spiritualität für junge Leute, Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2003 (Original 1997), Zitat auf Seite 15.

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Barbara Schenck, 25. September 2013