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Was wir uns selbst verdeckt haben
Mittwochskolumne von Dennis Schönberger
Einen Monat nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine scheint sich das Rad der Zeit immer schneller zu drehen: Die militärischen Aktionen werden ausgeweitet und verschärft, die politischen Entscheidungen und sozioökonomischen Veränderungen überschlagen sich und das Befinden der Menschen ist oft resignativ, woran die mediale Berichterstattung ihren Anteil hat, da sie, so mein Eindruck, selbst am Rad dreht. Es verwundert nicht, dass die Informations- und Bilderfülle verängstigt und überfordert, weil valide Einordnungen schwer sind. Wie ist dem zu entgehen? Durch Realitätsverweigerung? Durch Weltflucht?
Die Krisen der Gegenwart fordern die Gemeinde Jesu Christi heraus – und damit jeden und jede von uns. Abseits stehen wäre fatal. Was nottut ist dies: Nüchtern werden und die tieferliegenden Probleme dieses Krieges ansprechen. Wir drohen zurückzufallen ins Denken von „Freund“ und „Feind“, um uns selbst zu verdecken, woran es uns die letzten Jahrzehnte gemangelt hat. Einer ehrlichen Bestandsaufnahme in puncto Frieden mit dem Osten.
Es war dies über weite Strecken ein fauler Frieden, der schon 2014 erhebliche Risse in unserem selbstgeschnitzten Weltbild erhielt und der spätestens Ende 2021 durch den Truppenaufmarsch der russischen Armee an der Ostgrenze der Ukraine zum Umdenken hätte führen können. Wir haben uns etwas vorgemacht in unserem Verhältnis sowohl zu den Staaten Osteuropas als auch zu Russland. Die jahrelange Desinformation der russischen Bevölkerung hat böse Frucht getragen. Ja, wir haben für Freiheit und Gerechtigkeit geworben, doch waren wir auch selbst wirklich frei und gerecht?
Die Solidarität mit den geflüchteten ukrainischen Kindern und Frauen ist überwältigend. Sie ist ein Licht in diesen dunklen Zeiten! Nächstenliebe erweisen wir jedoch nicht zuerst „Freunden“, sondern „Feinden“, denn das Gebot der Nächstenliebe hat seine Point in der Feindesliebe. Die wiederum erweist sich im Friedenmachen sowohl mit Noch-nicht-Freunden als auch mit Nicht-mehr-Freunden. Sie ist keinesfalls unkritisch gegenüber diesem ungerechten Angriffskrieg und dessen Verursacher: Wladimir Putin. Noch weniger ist sie unbarmherzig im Blick auf Zukunft nicht nur ukrainischen, sondern auch der russischen Menschen, die unter einem Despoten leiden – und das nicht erst seit dem 24.02.2022. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieser Krieg ist Unrecht! Wladimir Putin ist nicht mehr als rechtmäßige staatliche Autorität zu betrachten und gehört vor Gericht. Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Aber: Nächstenliebe als Feindesliebe ist eine Zumutung!
Wer heute in der Kirche Verantwortung trägt, wird nicht leichtfertig von einem „gerechten Krieg“ reden dürfen. Er oder sie könnte vergessen haben, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu entfernen. Der Balken ist der Scheinfrieden, in dem wir als uns als demokratischer Westen nach 1989 gewogen haben. Wir dachten, der Kalte Krieg sei vorbei, die Welt ein besserer, sicherer, gerechter Ort. Wir müssen aber bekennen: Die Welt ist, was sie immer war: Welt. Der Kalte Krieg ist nicht plötzlich wieder da. Er war nie weg aus unseren Herzen und Köpfen; bei den einen mehr, bei den anderen weniger.
Kehren wir vor der eigenen Haustür und halten wir fest am gerechten Frieden! Der Nachdruck liegt gerecht. Die Opfer des Krieges brauchen unsere Hilfe – viele erhalten sie, Gott sei Dank! Was sie ebenso brauchen: Trost. Den haben wir aber nicht einfach, den benötigen wir immer wieder. Wenn wir, was heute vielen von uns so schwer scheint, wirklich glauben, dass Jesus Christus unser Friede ist, gehen unsere Gebete in die Ukraine und nach Russland. Denn beide leiden unter der gleichen Schreckens- und Lügenherrschaft, aber freilich sehr ungleich! Doch können wir das Leid der Ukrainer wirklich ermessen? Der Gekreuzigte kann es. Das darf man glauben. Können wir das?
Dennis Schönberger