Vortrag von Bischof Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin
in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin am 10. Juli 2009
I.
Wer immer in Berlin eines Reformators gedenkt, muss gewarnt werden. Die Warnung fällt in der bildlosen Französischen Friedrichstadtkirche leichter als im bildkräftigen Berliner Dom. Aber so eindrucksvoll auch immer Luther und Melanchthon, Calvin und Zwingli im Rund des Berliner Doms auf dem Sockel stehen, sie haben keine neue Kirche begründet. Die Situation, in der sie sich zur Erneuerung der einen Kirche herausgefordert sahen, haben sie sich nicht ausgewählt. Die Verwechslung von geistlichem Auftrag und weltlicher Macht, die sie erlebten, ließ ihnen, so waren sie überzeugt, keine andere Wahl. Die Verdunkelung dessen, was „Christum treibet“, konnten sie nach ihrer festen Überzeugung nicht sich selbst überlassen. Sie wollten der einen, heiligen, allgemeinen, also katholischen und apostolischen Kirche dienen, von der das Glaubensbekenntnis spricht. Das taten sie auf dem Weg einer Erneuerung aus der apostolischen Botschaft und dem apostolischen Auftrag der Kirche heraus.
Wer sich heute an der Reform unserer Kirche beteiligt, wäre schlecht beraten, wenn er das in der Vorstellung täte, wir würden mit der Kirche sozusagen von vorn beginnen. Erst recht gilt: Die Situation, in der wir eine Konzentration auf den Kern des kirchlichen Auftrags mit missionarischer Ausstrahlung nach außen zu verbinden suchen, haben wir uns nicht ausgewählt. Der Traditionsabbruch, durch den wir im Westen wie im Osten Europas wie unseres eigenen Landes hindurchgegangen sind, ruft nach einer kräftigen Gegenbewegung. Mit der Tatsache, dass viele Menschen sogar ihre Gottvergessenheit vergessen haben, können wir uns nicht abfinden – wenn anders wir mit der in diesem Jahr 75 Jahre alten Theologischen Erklärung von Barmen unsere Aufgabe darin sehen, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk.
Wie begrenzt unsere Kraft auch immer sein mag, wir sehen uns dazu herausgerufen, uns solchen Aufgaben zu stellen. Denn herausgerufen zu sein, ist das Wesen der Kirche. Nichts anderes bedeutet das Wort, mit dem die Kirche zuerst auf Griechisch bezeichnet wurde und auch in den romanischen Sprachen noch heute bezeichnet wird: ekklesia – die Gemeinschaft der Herausgerufenen. Das ist der Sinn, in dem eine Kirche immer dazu berufen ist, „modern“ zu sein: Sie ist dazu berufen, auf die Herausforderungen ihrer Zeit im Geist Jesu und mit der Botschaft des Evangeliums zu antworten.
II.
Erstaunlich nah an Calvin sind wir mit einer solchen Beschreibung des kirchlichen Auftrags. Heißt es doch bei ihm: „Das ist unsere Aufgabe: überall in der Welt Gottes Güte bekannt zu machen. Doch darf man nicht die anderen aufmuntern und vorschicken, während wir selbst faul sitzen bleiben“.
Dass er faul sitzen geblieben sei, kann man Calvin nun wirklich nicht vorwerfen. In zwei Ansätzen hat er sich um die Einführung der Reformation in Genf bemüht; dazwischen hat er bemerkenswerte reformatorische Leistungen in meiner Geburtsstadt Straßburg vollbracht.
Auch im deutschen Protestantismus wollen wir derzeit nicht „faul sitzen bleiben und andere vorschicken“. Denn wir haben es auch als unsere Aufgabe erkannt, wenn nicht überall in der Welt, so doch jedenfalls in dem uns zugänglichen Bereich derselben Gottes Güte bekannt zu machen. Dem dient der Reformprozess der EKD, der 2006 mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ begann und für den in diesem September mit der Zukunftswerkstatt in Kassel ein weiterer Schritt bevorsteht.
Dieser Reformprozess steht unter biblisch geprägten Grundannahmen, von denen ich nur zwei nenne. Die eine lautet: „Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss das Evangelium erfahrbar sein.“ Und die andere: „Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus.“
„Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können“ – das klingt doch ziemlich ähnlich wie Calvins Aussage: „Das ist unsere Aufgabe: überall in der Welt Gottes Güte bekannt zu machen.“ Gerade die reformierte Tradition fordert zu einer ständigen Selbstüberprüfung der Kirche unter diesem Gesichtspunkt auf: ob sie dabei bleibt, Gottes Güte überall in der Welt bekannt zu machen – oder ob sie diese Güte lieber für sich selbst behalten will.
Wo immer reformatorische Kirchen sich dieser kritischen Frage stellten, sahen sie sich auch dazu genötigt, die Reformation selbst nicht als sicheren Besitz, sondern als beständige Aufgabe zu begreifen. Das gerann dann später zu der Formel, die Kirche der Reformation sei eine stets zu reformierende Kirche – eine ecclesia semper reformanda. Mit ihrem Reformprozess bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu diesem besonderen Akzent ihrer gemeinsamen Tradition.
Traditionen sind wie Brillen: Man soll nicht auf sie starren, sondern durch sie hindurchschauen. Nur so helfen sie dazu, mehr zu sehen als ohne sie. Über die Zeit, in der wir die reformatorischen Traditionen gegeneinander ausspielten, sind wir hinaus. Wir wollen vielmehr die Schätze entdecken, die sie bergen. In der Lutherdekade, die uns auf das Reformationsjubiläum 2017 hinführt, feiern wir ein Calvinjahr; ein Melanchthonjahr wird darauf folgen. Das zeigt: Auf die Verschränkung der Traditionen kommt es an; das Bewusstsein für den Schatz soll wachsen, der uns anvertraut ist. Für unseren Weg in die Zukunft wollen wir aus diesem Schatz Gewinn ziehen.
Warum sollte man sich diese Verschränkung der Traditionen nicht wie den Gebrauch einer 3D-Brille vorstellen? Nur wenn man gleichzeitig durch das grüne Glas auf der einen und das rote Glas auf der anderen Seite schaut, kann man wirklich dreidimensional sehen. Für die Auswahl der Farben in diesem Beispiel kann ich übrigens nichts.
Etwas vereinfacht weitergeführt: Ein Brillenglas lutherisch und ein Brillenglas calvinistisch, dann sieht man das Evangelische nicht nur als Fläche, sondern als dreidimensionalen Raum. So lassen sich die Schätze des Evangeliums voller und tiefer ermessen, als wenn diese Traditionen je für sich bleiben. Wenn wir immer nur durch ein Brillenglas schauten, könnten wir am Ende den Spott auf uns ziehen: Unter Einäugigen ist der Blinde König. Deshalb ermutigt dieses Calvinjahr dazu, durch beide Brillengläser der Reformation zu schauen. Ja, sie in ihrer Fülle wahrzunehmen, verlangt am Ende vielleicht sogar mehr als nur zwei Brillengläser.
III.
Ein Schatz, der sich bei Calvin entdecken lässt, findet sich gleich im ersten Kapitel seines Hauptwerks, der Institutio Christianae Religionis, zu deutsch: Unterricht in der christlichen Religion. Dort schreibt Calvin: „Die ganze Summe unserer Weisheit, soweit man sie als wahr und fest ansehen darf, besteht in zwei Stücken, nämlich in der Erkenntnis Gottes und unserer selbst.“
Was könnte moderner sein als diese Konzentration auf den inneren Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis des Menschen und seiner Gottesbeziehung? Gewiss: Modern ist es auch, an einem Selbstbewusstsein des Menschen zu arbeiten, das meint, ohne ein Gottesbewusstsein auszukommen. Doch die Erfahrung des modernen Menschen mit sich selbst führt auch immer an die Grenze, an der er sich mit einer Welt konfrontiert sieht, die ihm letzte Sicherheiten verweigert. Etwas paradox wird das in dem Bestseller-trächtigen Buchtitel von Richard David Precht ausgedrückt „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
Calvins Antwort auf diese Frage heißt: Du weißt, wer du bist, wenn du auf Gott schaust. Deine Identität empfängst Du von Gott her. Keine Selbsterkenntnis ohne Gotteserkenntnis. Wenn Du über die Unendlichkeit Gottes zu staunen gelernt hast, lernst Du, mit der Endlichkeit Deiner eigenen Existenz umzugehen. Dieses Staunen hat Calvin in die Begründungsformel menschlicher Demut gekleidet, nach der es dem Endlichen nicht möglich ist, das Unendliche voll in sich aufzunehmen: finitum non capax infiniti.
Aber Calvins grundlegende Entdeckung gilt auch umgekehrt: Keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis. Gott ist kein abstraktes philosophisches Prinzip, sondern er hat mit mir als Person zu tun. Wir können Gott nicht angemessen ohne die Beziehung zu uns denken. Inzwischen ist das eine Grundüberzeugung in vielen Formen moderner Theologie: Glaube ist ein Beziehungsgeschehen. Er zieht ein relationales Verständnis des Menschen nach sich. Der Mensch ist ein Beziehungswesen.
Calvins Überlegungen über das Verhältnis von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis waren elementare, gute Theologie. Die Konsequenz für heutige Reformprozesse in der Kirche ist denkbar einfach: Nichts ist für sie wichtiger als elementare, gute Theologie.
IV.
Allein schon die Zeit verbietet mir, alle Ideen, die wir gegenwärtig im Reformprozess unserer Kirche traktieren, mit Impulsen Johannes Calvins zu verbinden. Übrigens spricht nicht nur die knappe Zeit dagegen, sondern auch der gute Geschmack. Für alles, was man selbst vorhat, die Autorität vergangener Helden in Anspruch zu nehmen, ist nämlich auch nicht viel besser, als sich mit fremden Federn zu schmücken.
Nur noch einen einzigen Impuls Calvins will ich deshalb hervorheben. In einem Brief an den Herzog von Somerset schreibt er 1548: „Sorgen Sie doch ja so viel als möglich dafür, dass das Evangelium gute Schallrohre findet, durch die es bis ins Innerste des Herzens dringe. […] Wie sehr also auch Edikte und Gebote der Obrigkeiten gute Hilfsmittel sein mögen zur Förderung und Erhaltung des Christenstandes, so will doch Gott seine unumschränkte Gewalt zeigen in diesem geistlichen Schwert seines Wortes, wenn es verkündigt wird durch die Pfarrer.“ Für Calvin war, so muss man folgern, die Qualität des „Bodenpersonals Gottes“ von ganz entscheidender Bedeutung für die Ausbreitung des Wortes Gottes, für das Bekanntmachen seiner Güte.
Zwar sind für uns heute Edikte und Gebote der Obrigkeiten keine primären Hilfsmittel zur Verbreitung des Evangeliums mehr. Das kann man keineswegs nur in Berlin lernen, wenn auch hier besonders handgreiflich. Aber auch wenn die Bedeutung christlicher Prägungen für unsere Gesellschaft anerkannt und gefördert wird, gilt: Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche ist für uns ein hohes Gut. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang den klugen Begriff der „fördernden Neutralität“ gefunden. Sie steht im Dienst der Freiheit, die Freiheit zur Religion eingeschlossen.
Genau aus dieser Freiheit heraus ist es ein Grund zu großer Freude, wenn der Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, seiner reformierten Prägung eingedenk, dem Festakt zu Calvins 500. Geburtstag seinen Stempel aufdrückt. Nicht nur ich persönlich, sondern wir alle danken dafür sehr.
V.
Zwei Punkte aus Calvins Biographie möchte ich zum Schluss erwähnen, in denen ich besonders hilfreiche Hinweise für heutige Reformvorhaben sehe: eine Warnung und eine Ermutigung.
Die Warnung: Als Calvin 1536 nach Genf kam, drängte er darauf, seine Vorstellung von der Reformation der Genfer Kirche so schnell wie möglich umzusetzen. Im ersten Anlauf übertrieb er und achtete die örtlichen Gegebenheiten nicht. Deshalb musste er bereits 1538 die Stadt wieder verlassen. Persönlich finde ich das in Ordnung, weil er dadurch in Straßburg tätig wurde – wie gesagt: meiner Geburtsstadt. Erst im zweiten Anlauf konnte er auch in Genf erfolgreich wirken.
Die Lehre daraus ist denkbar einfach: Wer Reformen will, muss die Menschen mitnehmen. Das gilt sogar nicht nur in der Kirche, sondern auch im Staat. In der Kirche jedenfalls haben wir erkannt: Nicht überall gibt es die gleichen Voraussetzungen, nicht überall gibt es denselben Veränderungsbedarf. Was den Protestantismus betrifft, ist er übrigens nicht nur durch unterschiedliche konfessionelle Traditionen, sondern vielleicht sogar noch stärker durch unterschiedliche regionale Prägungen bestimmt. Wer das ignoriert, wird seinen Fehler – irgendwann – bereuen.
Und das andere: Selbst wenn es nicht überall denselben Veränderungsbedarf gibt, so gibt es doch überall Veränderungsbedarf. Neben den Stimmen derer, die wünschen, dass alles so bleibt, wie es ist, gibt es auch überall die Stimmen derer, die zur Veränderung bereit sind. Und manche wagen sogar zu fragen: Was passiert, wenn nichts passiert? Auf den unterschiedlichen Ebenen unserer Kirche ist die Bereitschaft groß, das Seine zu tun, damit überall in der Welt Gottes Güte bekannt gemacht wird. Viele lassen sich dabei von der Überzeugung leiten, dass man nicht die anderen aufmuntern und vorschicken darf, während man selbst faul sitzen bleibt.
Nach meiner festen Überzeugung waren die Bedingungen für die Reformation des 16. Jahrhunderts erheblich schwieriger als die Voraussetzungen für unsere weit bescheideneren Reformvorhaben. Wer die Erinnerung an die Reformation hoch hält, hat zum Kleinmut im Blick auf die eigenen Reformvorhaben eigentlich keinen Grund. Noch haben wir bei weitem nicht die Ziele erreicht, die wir uns gesetzt haben. Aber im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ haben wir ja auch erst das Jahr 2030 als Datum für die Verwirklichung unserer Visionen genannt.
Nach den Jahren in Straßburg kehrte Calvin 1541 nach Genf zurück. Nach dieser Rückkehr brauchte er gute zwanzig Jahre, um seine Vorstellung von der Reformation der Genfer Kirche umzusetzen. Dass er mit diesem langen Atem schließlich ans Ziel kam, ist auch für uns eine Ermutigung – und ein Grund zu feiern. Es lebe Calvin!
Es gilt das gesprochene Wort.