Warum gerade Beten? Warum (...) nicht besser: Kampf? Aufstand gegen Ungerechtigkeit und gegen die Zerstörung der Schöpfung! Solidarisches Engagement für die Armen und Entrechteten! Arbeit an einer besseren Welt! Warum nicht so: entschlossen, zupackend, aktiv? Warum Beten?
Aber wer sagt eigentlich, dass Beten keine Form des Aufstandes ist? Ein hoher Stasioffizier aus Leipzig hat im Rückblick auf den Mauerfall gesagt: "Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete." Beten gegen die Mächte der Welt - die Bedrängten sagen uns, dass sie auf solche Gebete warten. Und dass Gebet Arbeit ist, harte Arbeit sogar, das weiß jeder, der es ernsthaft versucht.
Warum Beten? Eine weitere Antwort erschließt sich aus dem anderen Begriff unseres Themas: Mächte! Deshalb müssen wir uns mit aller Kraft an Gott selbst wenden, weil wir es bei dem, was unser Zusammenleben krank macht und die Schöpfung aufs äußerste gefährdet, mit Mächten zu tun haben! Und da kann nur helfen, wer mächtiger ist als die Mächte! Jesus hat im Zusammenhang mit einer Dämonenaustreibung gesagt: "Von dieser Art können Menschen nur durch das Gebet geheilt werden" (Markus 9,29).
Rückfrage: Ist die Rede von Mächten keine mythologische Nebelkerze, die gefälligst in wissenschaftliche Analyse und rationale Argumentation überführt werden sollte? Dies ist der Vorwurf etwa gegenüber uns Reformierten, weil wir auf unserer Generalversammlung in Accra (Ghana) 2004 das unsere Welt versklavende neoliberale Wirtschaftssystem als Imperium charakterisiert haben. Ich halte diesen Vorwurf für falsch. Als theologische Bestimmung ist die Rede vom Imperium (ebenso wie Jesu Gebrauch des Wortes Mammon) angemessen und erkenntnisfördernd, gerade weil sie den Blick dafür schärft, dass politische bzw. wirtschaftliche Kräfte und Konstellationen uns gleichsam personhaft gegenüberstehen und uns beherrschen.
Karl Barth hat im letzten Kapitel seiner Kirchlichen Dogmatik (KD IV,4, Fragment, §78) ein energisches Plädoyer für diese biblische "mythologische" Redeweise gehalten. Jenseits von Eden, also in der Abkehr von Gott lebend, machen Menschen die Erfahrung, dass sich ihr Planen, Wollen und Tun gegen sie kehrt. Ihre besten menschlichen Fähigkeiten: sich zu einem komplexen Gemeinwesen zu organisieren, wirtschaftliche Austauschprozesse in Gang zu setzen, aber auch die Entwicklung von Recht, von Kultur, von Wissenschaft und Technik – all dies gerät, korrumpiert durch die menschliche Sünde, wie im Gedicht vom Zauberlehrling aus dem Ruder. Am Ende bekommen die Menschen, was sie da geplant und ins Werk gesetzt haben, nicht mehr in den Griff, es entwickelt eine Eigendynamik, die sich gegen sie kehrt und sich, obwohl von ihnen gemacht, der Beherrschbarkeit entzieht. Barth charakterisiert diese Mächte als "herrenlose Gewalten" und nennt "Imperium", "Mammon", "Ideologie". Er schreibt: Das Neue Testament "sieht und versteht die Menschen als Schiebende nicht nur, sondern auch als Geschobene - als Treibende nicht nur, sondern als Getriebene … Ohne deren Verantwortlichkeit und Schuld in Frage zu stellen, sieht es hinter und über jenen … jene unangreifbaren, aber höchst wirksamen Potenzen, Faktoren und Agenten, jene imaginären, aber gerade in ihrem imaginären Charakter erstaunlich aktiven ,Götter' und ,Herren'" (371).
Jeder Blick in die Zeitung lehrt uns, dass die biblische, "mythologische" Sichtweise nicht überholt ist. Wir kennen die Zahlen alle, die als Indikatoren wachsender Ungerechtigkeit, menschlicher Verrohung und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen das Unheil an die Wand schreiben. Warum ist das bloß so? Und warum wird alles immer schlimmer? Fehlen uns Erkenntnisse? Kaum! Mangelt es an Einsicht? An gutem Willen? An Mut zur Umkehr? Gewiss auch das. Aber doch wirft jede Antwort sofort neue Fragen auf. Es bleibt die Tatsache, dass wir die Dinge gerade nicht im Griff haben, sondern dass wir jedenfalls auch von Mächten Beherrschte sind – nicht nur einige Bösewichter, sondern die Massen, auch wir: Beherrschte sind. Gerade unser wissenschaftlich-rationales Weltbild kann auf diese Erkenntnis, die die biblische Sichtweise aufbewahrt, nicht verzichten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen allererst begreifen, dass sich politische, wirtschaftliche, auch gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen und Kräfte längst als Mächte etabliert haben. Wie Götter spielen sie sich unter uns auf und fordern ihren Tribut. Ihre religiöse Sprache ist verräterisch genug: Kriegsopfer, Wirtschaftsopfer, Opfer von Hasstiraden, Verkehrsopfer. Je mehr wir dies durchschauen und uns im Gebet zum lebendigen Gott flüchten, werden wir dann auch befähigt, uns dem Zugriff der Mächte zu entwinden. Wir lernen, unseren Verstand und unsere Wissenschaft nicht weiter zur Optimierung des Götzendienstes zu gebrauchen, sondern dazu, Wege aus der Sklaverei zu suchen und Schritte in die Freiheit zu tun.
Warum Beten? Die wichtigste Antwort zum Schluss: Weil der lebendige Gott sich von denen, die ihn anrufen, erreichen lässt und das Gebet der Seinen erhört. Am Beginn der Befreiungsgeschichte Israels heißt es: "Und Gott sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört … und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette" (2. Mose 3,7 f.). Im weiteren Fortlauf der Geschichte wird immer wieder erzählt, wie Gott sich durch Gebete bewegen lässt: durch die verzweifelten Schreie der Notleidenden, durch die gottesdienstlichen Gebete der versammelten Gemeinde, durch die Bitte und Fürbitte einzelner.
Karl Barth wagt den ungeheuerlichen, aber biblisch wohlbegründeten Satz: Das Gebet ist des Menschen "faktischer, realer Anteil an Gottes Weltherrschaft" (KD III,3, §49.4, 323) Gott bestimmt den Lauf der Welt eben auch dadurch, dass er sich durch die Seinen bestimmen lässt. Denn "wo der Christ ... betet, da findet ... nicht nur eine kreatürliche Bewegung statt, da bewegt sich vielmehr, verborgen in der kreatürlichen Bewegung, aber höchst real, der Finger, die Hand, das Szepter des die Welt beherrschenden Gottes, mehr noch: da bewegt sich Gottes Herz, da ist er selber als der Lebendige in seiner ganzen Liebe, Weisheit und Macht auf dem Plan" (326).
Die Bibel erzählt uns den Weg des Volkes Gottes und den Weg Jesu als eine Geschichte fortwährender Gebetserhörungen. Diese Geschichte lehrt allerdings, dass Gottes Erfüllungen anders ausfallen können als die Wünsche der Beterinnen und Beter. Nach Freiheit hatten sie in Ägypten geschrien; und doch führte der Gang durchs Rote Meer nicht geradewegs ins Gelobte Land, sondern in eine lang währende Wüstenwanderung. Die Gedanken und Wege des durch innigste Gebete angerührten Gottes bleiben doch seine Gedanken und Wege. Und wer könnte bestreiten, dass sie uns oft ganz fremd und unverständlich sind - so fremd, wie es den Jünger/innen war, dass Jesus das Böse nicht gewaltsam hinwegfegen, sondern durch die Kraft seiner Liebe besiegen wollte. Als Betende bleiben wir Wartende. Denn wir sind, wie Paulus einmal sagt, "zwar gerettet, doch auf Hoffnung" (Römer 8,24). Betend klammern wir uns an den Zuspruch, dass keine der Mächte dieser Welt uns aus der Hand unseres Gottes reißen kann und dass unser himmlischer Vater weiß, was wir brauchen und denen Gutes tut, die ihn darum bitten (vgl. Matthäus 6,32).
Das entscheidende Gebet gegen die Mächte der Welt hat uns Jesus selber gelehrt. Viele Male haben wir es schon gesprochen, vielleicht ohne immer genau zu wissen, was wir da sagen, obwohl im Grunde mit einer Gebetszeile alles gesagt ist: "Dein Reich komme". Die zweite Bitte des Vaterunsers ist das Gebet gegen die Mächte der Welt schlechthin. Denn hier wenden wir uns an den, der allein in der Lage ist, die Macht der Sünde und des Todes, die Mächte der Ungerechtigkeit und des Unfriedens, die Herrschaft des Geizes und der Gier in die Schranken zu verweisen, ja ihnen den Garaus zu machen.
Dein Reich komme - diese Bitte hat uns der gelehrt, mit dessen Kommen Gottes Reich mitten in dieser Welt schon unübersehbar aufgeleuchtet ist. Seiner ersten Predigt (Lukas 4,14-21) legt Jesus ein Wort des Propheten Jesaja zu Grunde (61,1.2): "Der Geist des lebendigen Gottes ist auf mir, denn er hat mich gesalbt, den Armen frohe Botschaft zu bringen. Er hat mich gesandt, auszurufen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." Jesu Predigt wird in dem einen entscheidenden Satz zusammengefasst: "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren." Und in der Tat: Wunderbar und zugleich höchst real bricht in seiner Gegenwart der Schalom Gottes an. Jesus erquickt sie alle: die Armen und die Entrechteten, die unter der Last ihrer Schuld Gebeugten und die in die Irre gehen: Zöllner und Zeloten, die Kranken und die Traurigen und all die anderen Verdammten dieser Erde. Wie gnadenlos und zerstörerisch die Mächte sind, denen dieser Gerechte sich entgegenstellt, wird nirgendwo deutlicher als am Kreuz, an das man ihn am Ende gehängt hat, weil man die Verkörperung des Erbarmens Gottes unter sich nicht erträgt, nicht zulassen will. Doch am Ostermorgen ist entschieden, wem die Zukunft gehört. Nicht den Repräsentanten und den Zuarbeitern und Knechten jener Mächte, sondern dem Gott, der den Gekreuzigten von den Toten auferweckt zur lebendigen Hoffnung für die Welt.
Dein Reich komme – mit dieser Bitte wenden wir uns an Gott und flehen ihn an, er möge das, was mit dem Kommen seines Sohnes aufgebrochen und angebrochen ist, vollenden. Er möge, wie Paulus es formuliert (Römer 14,17), sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens und der Freude in dem Heiligen Geist aufrichten. Diese Bitte, mit Bedacht gesprochen, macht uns kritisch: sie schärft unseren Blick gerade für die falschen Götter und die echten Götzen, die unser Leben im Griff halten, uns womöglich weismachen, sie wollten unser Bestes, und uns und unsere Welt in Wahrheit doch an den Abgrund führen.
Dein Reich komme, diese Bitte macht uns ungeduldig. Denn wer weiß, dass die gute Zukunft noch aussteht, kann sich mit dem, was ist, nicht abfinden; Christenmenschen entlarven nicht nur falsche Götter, sondern auch und erst recht Scheinparadiese! Die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes macht uns aber auch weise. Weil wir wissen, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist (weshalb müsste es sonst erbeten werden?), trauen wir niemand, der uns zu viel verspricht: In die größten Katastrophen sind die Menschen noch immer dann geraten, wenn sie es unternahmen (bzw. wenn sie denen trauten, die versprachen), das ideale Reich des Friedens, der Freiheit, der Gleichheit, des Wohlstands, oder was der Ideale noch sein mochten, selbst zuwege bringen zu wollen. Am schlimmsten sind die selbst ernannten Gotteskrieger, welcher Religion auch immer sie angehören: je mehr Macht ihnen zufällt, desto mehr wird das Leben zur Hölle.
Dein Reich komme, diese Bitte macht uns selbstkritisch, denn wer so betet, bekennt, dass er oder sie auf Erlösung wartet, weil er selbst verstrickt ist in den Fängen der Mächte. Zugleich erbitten wir Klarheit und den langen Atem, in der Nachfolge Jesu die uns möglichen Schritte auf dem Weg der Gerechtigkeit zu gehen.
Dies alles und noch viel mehr schwingt mit, wenn wir von Jesus angeleitet beten: "Dein Reich komme." Und: die zentrale Bitte um das Kommen des Reiches Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch das Gebetsleben Einzelner sowie der Synagoge und Kirche als ganzer. "Steh auf, Herr! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss die Gebeugten nicht!" (Psalm 10,12) - der Ruf um Erbarmen für die Elenden und die Aufrichtung des Rechtes, der in den Psalmen wieder und wieder laut wird, ist auf seine Weise ein Gebet gegen die Mächte. Von den Psalmen inspiriert, bitten wir (Christen wie Juden) Gott in jedem Gottesdienst darum, Gerechtigkeit und Frieden wachsen zu lassen und den Mächten des Bösen Einhalt zu gebieten. Und je konkreter dies geschieht und je informierter, umso besser! Wohlgemerkt, wir sollen als Gut-Informierte beten - wir sollen nicht im Gebet informieren, denn der Liebe Gott hat alle Zeitungen gelesen.
Zu welchem Grad von Konkretheit Beter/innen sich im Einzelfall vorwagen können, davon zeugen die fälschlicherweise so genannten Rachepsalmen. Ich sage fälschlicherweise, weil es in diesen Gebeten zentral um die Aufrichtung des Rechtes geht. Sie sind aus der Perspektive solcher gesprochen, an denen Unrecht verübt wird. Aus ihrer Not heraus schreien sie zu Gott: "Der Gottlose rühmt sich seines Mutwillens und der Habgierige sagt dem Herrn ab und lästert ihn. Der Gottlose meint in seinem Stolz, Gott frage nicht danach" (Psalm 10,3 f.). Sie schildern, was ihnen angetan wird: "Siehe, sie lauern mir auf; Starke rotten sich wider mich zusammen …" (Psalm 59,4). "Sie sitzen in Hinterhöfen auf der Lauer. In Verstecken wollen sie Unschuldige morden. Ihre Augen spähen nach den Wehrlosen. Sie lauern im Versteck wie ein Löwe im Dickicht. Sie lauern den Gebeugten auf, um sie zu fangen. Sie fangen die Gebeugten, ziehen sie in ihr Netz. Sie ducken sich, kauern nieder. Die Wehrlosen fallen durch ihre Übermacht" (Psalm 10,8-10). Angesichts der geschilderten Not kann dann aus den Bedrängten die Bitte herausbrechen: "In deiner Güte vertilge meine Feinde und lass umkommen alle, die mich bedrängen" (Psalm 143,12).
Darf man auch so beten? Bevor wir hier vorschnell Nein sagen oder womöglich einen falschen Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament aufmachen, sollten wir bedenken: Diese Gebete sind nicht typisch alttestamentlich. Noch auf den letzten Seiten der Bibel hören wir, wie die Märtyrer - ausgerechnet sie - inbrünstig zu Gott schreien: "Herr … wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?" (Off 6,10). Machen wir uns klar: Diese Gebete sind in einer jeweils konkreten ausweglosen Notsituation, genauer: Gewaltsituation, gesprochen. Man legt deshalb einen falschen Maßstab an, wenn man sie ins Grundsätzliche wendet: Weder wird hier die Welt ein für alle Mal in die Guten und die Bösen aufgeteilt, noch behauptet der Beter, er sei frei von jeder Sünde. Aber jetzt, in einer Situation äußerster Unterdrückung und Gewalt, flieht er zu seinem Gott und bittet ihn um Hilfe gegen die, die ihm Böses wollen, gegen die Mächte. Dabei sollte den christlichen Kritikern zu denken geben: Indem der Beter Gott um Vernichtung der Widersacher bittet, verzichtet er darauf, selbst zur Waffe zu greifen. Er vertraut darauf, "der Herr wird seinem Volk Recht schaffen" (5. Mose 32,36). Und er hält sich strikt daran, dass Gott gesagt hat: "Die Rache ist mein" (32,35). Und weiter: Wer so betet - und das sollten sich gerade die Engagierten unter uns besonders zu Herzen nehmen -, ist bereit, auch sich selbst Gottes Urteil und Gericht anheim zu stellen. Der Beter, der am Ende von Psalm 139 Gott gegen seine Feinde anruft, schließt mit den Worten: "Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege" (V. 23 f.). Manchem kirchlichen Mahner könnte ich seine Worte noch besser abnehmen, wenn er weniger selbstgerecht daher käme, stattdessen durchscheinen ließe, dass er selbst auch der Prüfung und der Reinigung Gottes bedürftig ist. Schließlich: Auch in solchen Gebeten ist der Tod der Ungerechten nicht das eigentliche Ziel. In Psalm 59 heißt es: "Bringe sie nicht um, dass mein Volk es nicht vergesse; zerstreue sie aber mit deiner Macht … sie sollen sich fangen in ihrer Hoffart mit all ihren Flüchen und Lügen" (V.12 f.). Die Bösen sollen also nicht vom Schlag getroffen werden, um einfach weg zu sein. Erbeten wird, dass die Bösen an ihrem eigenen Tun zugrunde gehen. Gott soll es geschehen lassen, dass die Bösen an ihrer eigenen Bosheit zerbrechen. Warum? Damit ein Stück Gottesgerechtigkeit einkehre, damit die Gemeinschaft befreit aufatmen kann und lerne: "… dass Gott Herrscher ist in Jakob, bis an die Enden der Erde" (V. 14). Das ist das Ziel dieses Gebetes, und es reicht weit über ein Privatinteresse des Beters hinaus: Die Welt soll nicht mehr vom Unrecht der Unterdrücker geschunden sein, vielmehr möge Gott dem Recht zum Zuge verhelfen.
Mir ist aus der Zeit der Jugoslawienkriege ein Klagegottesdienst anlässlich der Vergewaltigung bosnischer Frauen nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Er orientiert sich an dem soeben zitierten Psalm 10 und übersetzt angesichts der konkreten Situation das Wort reschajim (von Luther missverständlich mit "Gottlose" übersetzt) mit Vergewaltiger (was durchaus im Gefälle der hebräischen Wortbedeutung liegt; vgl. "Bibel in gerechter Sprache"). Was aber bedeutet dann die Psalmbitte: "Zerbrich den Arm des rascha (des "Gottlosen")? Im Gebet heißt es nach der Fürbitte für die Opfer:
Gott, wir bitten dich auch für die
entmenschlichten Täter,
denen nichts heilig ist und die vor keinem
Gräuel zurückschrecken.
Fall ihnen in den Arm, mach sie impotent.
Lass sie erkennen, was sie anrichten, und
endlich aufhören mit ihren Verbrechen!
Kyrie eleison.
Auch in einem solchen Extremfall ist das Gebet gegen die Mächte ein Gebet für die Menschen und nicht gegen sie. Gewiss parteilich, indem es vor allem den Beistand für die Entrechteten und also die Wiederaufrichtung des Rechtes erfleht. Aber auch die Feinde bleiben im Blick; insofern erfüllt auch dieses Gebet die Mahnung Jesu, für die Feinde zu beten (vgl. Mt 5,44). Sie sollen daran gehindert werden, endlos weitere Schuld anzuhäufen.
Martin Niemöller, eine der Leitfiguren der Bekennenden Kirche, erzählt, ihm habe geträumt, er befinde sich am Jüngsten Tag im Gerichtssaal Gottes und beobachte, wie Adolf Hitler vor seinen himmlischen Richter treten muss. Er wird gefragt, wie er all das Grauen habe anrichten können. Da habe Hitler geantwortet: "Weil der Niemöller zu wenig für mich gebetet hat." Aus dem Munde Hitlers nur ein weiterer Beleg für seinen verantwortungslosen Zynismus. Aus der Perspektive Niemöllers, der erzählt, er sei erschrocken aufgewacht, die ernste Anfrage, wie viel wir dem Gebet gegen die Mächte zutrauen und wie verlässlich wir es wahrnehmen.
Dazu noch ein letzter Hinweis: Das Gebet gegen die Mächte der Welt bewährt sich nicht zuletzt im leidenschaftlichen Beten für die Mächtigen. In der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, auch bei den Reformatoren und auch in der Synagoge bis auf den heutigen Tag ist eins ganz klar: Die versammelte Gemeinde betet regelmäßig für die "Obrigkeit", sprich: für die Regierung. Für die irrende, dass sie von ihren falschen Wegen zurückfinde, für die verantwortungsvoll handelnde, dass Gott ihr Tun segnen möge. Hand aufs Herz: Kann sich unsere Bundesregierung darauf verlassen, dass sie jedenfalls Euch, also die Christinnen und Christen, und Eure Gemeinden betend an ihrer Seite hat? Kann sie sich sicher sein, dass Ihr für sie betet - unbeschadet der Tatsache, ob es die von Euch gewünschte Regierung ist und ob Ihr deren Politik gerade billigt oder nicht?! Ich muss gestehen, in unserer Reformierten Liturgie, also dem Agendenwerk der Reformierten Gemeinden und Kirchen in Deutschland, an dem ich selbst verantwortlich mitgearbeitet habe, finden sich in dieser Hinsicht peinliche Lücken. Andere mögen bei sich nachschauen! Uns allen sollte klar sein: Die berechtigte Abkehr von einer Kirche, die ihre Aufgabe einst darin sah, die jeweils herrschende Politik religiös zu überhöhen, darf nicht im Gegenzug in einen geistlichen Schlendrian führen, der vergisst, dass uns das Gebet für die Regierenden geboten ist. Es stellt eine notwendige Konkretion der Bitte dar: Dein Reich komme. Lasst uns nicht aufhören, auch und gerade die Mächtigen kräftig ins Gebet zu nehmen und sie dem Gott anzuvertrauen, zu dem wir rufen: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Quelle (Überschriften bearb.): Junge Kirche 4/2007