Der Dichter des Liedtextes Johann Gramann, genannt Johannes Poliander, studierte bei Luther und Melanchthon in Wittenberg, war bei der Leipziger Disputation allerdings Sekretär von Luthers Gegenspieler Johannes Eck. Dann aber wandte er sich doch endgültig der Reformation zu und versuchte sich vergeblich als Reformator in Würzburg und Neumünster. Schließlich wurde er Pfarrer an der Kirche St. Klara in Nürnberg, in der inzwischen wieder katholischen Kirche also, in der die Nürnberger reformierte Gemeinde gerade ersatzweise ihre sonntäglichen Gottesdienste feiert. Seine letzte Station führte ihn nach Königsberg, wo er weiter reformierend (und hier auch erfolgreich) tätig war.
Sein eben dort im Ostpreußischen entstandenes Kirchenlied atmet jenen Zug des reformatorischen Geistes, der heute schwer vermittelbar ist. Es ist die fünf Strophen über immer wieder von uns armen, schwachen Menschen die Rede, die wir nur Staub sind und kindlich sein müssen vergänglich. In allen möglichen Variationen geht es immer wieder darum, dass der Mensch auf Gottes Erbarmen und seine Hilfe angewiesen ist. Ansonsten gibt es nur Leid, Vergänglichkeit und Schuld.
War das damals wirklich das weit verbreitete Lebensgefühl? War die Suche nach einem gnädigen Gott, die Luther immer wieder als leitendes Motiv unterstellt wird, tatsächlich eine Frage, die die Menschen umgetrieben hat?
Oder ist dies doch eine Theologie, die den Menschen klein und schwach machen will, um Gott umso größer und machtvoller vorführen zu können? Der Herrscher im Himmelreich mit starken Engeln an seiner Seite (4) und „Güt ohn Maßen“ (2) schafft Recht und bewahrt seine G’meine in Ewigkeit. Ohnmacht hier (unten) und Macht dort (oben).
Diese drastische Sprache können wir heute kaum mehr nachvollziehen. Wochenlied hin oder her – ich würde es nicht singen lassen. Jedenfalls nicht ohne entsprechende Einleitung oder Aufnahme in der Predigt.
Georg Rieger