Das Trauma Israels

Predigt zum Israelsonntag (5. Mos 25,12-19; 2. Mose 17,14)


Nicolas Poussin: Der Sieg Josuas über die Amalekiter (Ausschnitt) © Wikicommons / Hermitage Museum

Von Sylvia Bukowski

Mögen nie aufhören...

Das sind die Worte zu der Melodie, die Sie gerade gehört haben. Sie drücken die Hoffnung von Hanna Szenes aus, die sich 1944 dem jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus angeschlossen hat und als Fallschirmspringerin gestorben ist.

Unter dieser Hoffnung soll der heutige Sonntag stehen, der in der Tradition unserer Kirche als Israelsonntag gefeiert wird. Der Wochenspruch lautet: ...

 

Liebe Gemeinde,

1980 wurde in der EKiR ein wegweisender Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden gefasst. Darin wird die Mitverantwortung und Schuld der Kirche am Holocaust bekannt und anschließend verpflichtet sich die Kirche, neue biblische Einsichten über die bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung Israels Rechnung zu tragen, sprich, sich von alten antijudaistischen Auslegungsweisen zu verabschieden.. Vieles davon ist hier in dieser Gemeinde längst nicht mehr neu, sondern selbstverständlich. Zum Beispiel, dass Jesus natürlich nicht der erste „Christ“ war, sondern als Jude gelebt hat und als Jude gestorben ist.

Auch die alten, vergifteten Klischees vom alttestamentlichen Gott der Rache, dem gesetzlichen Judentum, das keine Gnade kennt und dem verworfenen jüdischen Volk, an dessen Stelle das Christentum tritt, werden hier schon lange nicht mehr gepredigt. Noch letzten Sonntag hat Jochen die Pharisäer von ihrem negativen Image befreit und auf die enge Verbindung Jesu zu dieser jüdischen Bewegung hingewiesen. Und was der rheinische Synodalbeschluss den Gemeinden empfohlen hat, nämlich Kontakt suchen zu jüdischen Einrichtungen und Gesprächspartnern haben viele von Ihnen schon praktiziert. Mit all dem sind Sie wahrscheinlich auch einverstanden. Nur zwei Punkte des Synodalbeschlusses haben damals schon heftige Diskussionen ausgelöst. Zum einen der ausdrückliche Verzicht auf Judenmission, zum anderen, und darum soll es heute gehen: die Behauptung, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch der Staat Israel Zeichen der Treue gegenüber seinem Volk sind.

Darüber stolpern viele bis heute viele. Denn so sehr die bleibende Verbundenheit mit dem biblischen Israel in unserer Kirche inzwischen akzeptiert ist (sie gehört seit 1996 in die Grundartikel der rheinischen und vieler anderer Kirchen!), so tun sich viele Christenmenschen schwer mit der Verbundenheit mit dem Staat Israel. Und das nicht erst seit der den furchtbaren Krieg in Gaza führt. Vor allem die Siedlungspolitik ist schon lange ein Stein des Anstoßes und seit Sie vor ein paar Jahren den christlichen Palästinenser Daoud Nasser zu Gast hatten, der von den Kämpfen um seinen Weinberg in den besetzten Gebieten berichtet hat, haben Sie hier in Ronsdorf eine authentische Leidensgeschichte zu hören bekommen, aber auch das eindrucksvolle Bekenntnis: Wir weigern uns Feinde zu sein..

Trotzdem: Wenn wir dem Grundsatz unserer Kirche folgen, nach Jahrhunderten von christlicher Schuld gegenüber den Juden ein neues Verhältnis zu Israel suchen zu müssen, können wir den Staat Israel nicht ausblenden. Vielleicht hilft es, eine grundlegende israelische Denkweise zu kennen, die manches erklärt, ohne alles zu rechtfertigen.

Das will ich mit meiner Predigt versuchen. Ich beziehe mich dabei auf zwei Bibelstellen.....

5.Mos 25,12-19

Denke daran, was dir die Amalekiter angetan haben auf dem Weg als ihr aus Ägypten zogt: wie sie dich unterwegs angriffen und deine Nachzügler schlugen, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben sind, als du müde und matt warst und wie sie Gott nicht fürchteten. Wenn dich nun der Herr, dein Gott vor allen deinen Feinden ringsumher zur Ruhe bringt im Land das dir der Herr zum Erbe gibt, so sollst du die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel. Das vergiß nicht.

2.Mose 17,14

Und der Herr sprach zu Mose: Schreibe dies zum Gedächtnis in ein Buch und präge es Josua ein, denn ich will die Amalek austilgen unter dem Himmel, dass man seiner nicht mehr gedenke.

Sie haben gehört: Was die Amalekiter so besonders furchtbar macht, furchtbarer als andere Feinde Israels, ist, dass sie nicht von vorn angreifen, dort, wo die Stärksten zur Verteidigung bereit sind. Nein, sie greifen von hinten an, dort, wo die Langsamen, die Erschöpften, die Wehrlosen sind: Alte, Kranke, Kinder, Mütter. Und Sie wissen: Was hier von Amalek erzählt wird gehört bis heute zu dem Furchtbarsten in kriegerischen Auseinandersetzungen: der Angriff auf die Zivilbevölkerung, die Mitleidlosigkeit selbst kleinen Kindern und gebrechlichen Alten gegenüber. Solche Gewalt gegenüber Wehrlosen wird oft ganz bewusst eingesetzt, um starke Gegner zu demütigen. Kinder werden vor den Augen ihrer Eltern erschossen und Frauen werden im Beisein ihrer Männer vergewaltigt. Die, die eigentlich Beschützer sein müssten und wollten, werden beim ohnmächtigen Zusehen dieser Gewalt gedemütigt und verhöhnt. Ihre Würde wird damit aufs gemeinste zerstört. Für diese gezielte und absolut skrupellose Gewalt steht Amalek.

Und wenn es heißt, Amalek hat Gott nicht gefürchtet, dann bedeutet das nicht, dass Amalek zu den vielen heidnischen Völkern rings um Israel gehört, sondern dann heißt das: Amalek hat keinerlei moralische Instanz respektiert, oder anders gesagt: Amalek ist nichts heilig. Das Leben und die Würde anderer sind ihm einen Dreck wert.

Dazu kommt schließlich auch noch: Amalek stammt von Esau ab, dem Bruder Jakobs, zu dessen Nachkommen sich Israel zählt. Amalek und Israel sind also in gewisser Weise verwandt. Das macht die Gewalt Amaleks noch zusätzlich schmerzhaft, weil sie Gewalt unter Brudervölkern ist

Die leidvolle Erfahrung mit Amalek hat sich Israel jedenfalls tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Und immer wieder ist Israel Amalek begegnet, einem Feind, der auf Israels totale Vernichtung aus war. Im Buch Ester wird von Haman, einem tatsächlichen Nachfahren von Amalek, erzählt, der den persischen König dazu bringen will, die ganze jüdische Diaspora in seinem Reich auszurotten, dank der Königin Ester ohne Erfolg. Später sind es die Römer, die kein Judäa mehr auf der Landkarte dulden und an dessen Stelle die Provinz Palästina setzen. Im christlichen Europa trat Amalek in der Gestalt der Fanatiker auf, die im Namen Jesu zur Vertreibung und Ermordung der jüdischen Nachbarn aufrief. Die Nazis verfolgten dieses Ziel dann mit deutscher Gründlichkeit und wie Amalek verschonten sie nicht einmal Kinder, Schwangere, oder wehrlose Greise.

Amalek ist das Trauma Israels.

Und nun heißt es in dem ersten biblischen Text zu Amalek: Du sollst die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel. Das vergiß nicht!

Das hört sich sehr widersprüchlich an: nicht vergessen, was Amalek getan hat, damit das Gedächtnis an Amalek ausgelöscht wird.

Aber so ist das tatsächlich: Um Amalek endlich vergessen zu können, muss ausgerechnet die Erinnerung an seine Verbrechen wachgehalten werden. Denn nur mit einer genauen Erinnerung kann verhindert werden, dass sich diese Verbrechen wiederholen. Und erst wenn die Gefahr der Wiederholung endgültig gebannt ist, kann man tatsächlich vergessen. Das ist im Grunde auch das Ziel heutiger Gedenkstättenarbeit. Ihre Forschung zur NS-Zeit bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. Sie dient vor allem dazu, verhängnisvolle gesellschaftliche Tendenzen rechtzeitig erkennbar zu machen, damit sich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wiederholen und die alten Wunden endlich heilen können.

Aber während wir in Europa, und speziell als Christen, aus dem Grauen des Zweiten Weltkriegs gelernt haben: "Nie wieder Krieg", hat Israel gelernt: "Nie wieder Auschwitz". Und das bedeutet: Nie wieder darauf vertrauen, dass es doch nicht so schlimm kommen wird. Nie wieder wehrloses Opfer werden. Nie wieder die Schwächsten nicht beschützen können.  Nie wieder Amalek siegen lassen.

Deshalb gehört zur israelischen Politik von Anfang an die Wehrhaftigkeit. Die Fähigkeit zur Selbstverteidigung gegenüber allen Feinden. Und nur eine sehr kleine Minderheit der jungen israelischen Männer und Frauen verweigert den langen Militärdienst – abgesehen von den Ultraorthodoxen, die den Staat Israel sowieso aus religiösen Gründen ablehnen.

Der 7. Oktober mit den grauenhaften Verbrechen an über 1200 wehrlosen Zivilisten und die Entführung hunderter Geiseln, hat die Erinnerung an Amalek in Israel in neuer Form wachgerufen. Da war es wieder: das Trauma der Wehrlosigkeit, des Nicht-beschützen-Könnens, des Ausgeliefertseins an Feinde, die nicht weniger wollen als die totale Vernichtung Israels.

Wer dürfte Israel das Recht absprechen, gegen diese Feinde vorzugehen?

Das große Problem ist die Art, wie Israel seither in Gaza Krieg führt. Sie wird von vielen Verbündeten Israels zurecht kritisiert, weil diese Kriegsführung die Zivilbevölkerung nicht verschont, die von der skrupellosen Hamas als Schutzschild benutzt wird.
hunderttausende Israelis demonstrieren jede Woche gegen die rechtsradikale Regierung Netanjahus, die das Trauma von Amalek missbraucht für eine maßlos aggressive Politik gegenüber den Palästinensern, jede Woche fordern sie ein Ende dieses schmutzigen Krieges. Das darf bei aller Kritik an Israel nicht vergessen werden! Als echte Demokratie lässt der israelische Staat diese staatskritischen Demonstrationen zu!

Nun haben wir in Wuppertal keine Möglichkeiten, die verhängnisvolle israelische Politik zu beeinflussen. Wir können nur für die beten, die in Israel und Gaza unter Terror und Krieg leiden und wir können Gott drängen, noch viel mehr Menschen für ein friedliches Zusammenleben der Völker im Nahen Osten zu gewinnen. Das tun sicher auch viele von Ihnen, auch in den speziellen Friedensgebeten dieser Gemeinde.

Anders gefordert sind wir im Blick die jüdische Gemeinschaft außerhalb Israels, auch hier in Wuppertal. Sie trauert um die vielen Ermordeten des 7.10. Sie bangt um die Geiseln. Und sie erlebt eine unfassbare Gefühlskälte gegenüber den jüdischen Opfern. Wo waren die Feministinnen, die jetzt so gern Palästinensertücher tragen, um gegen die sexuelle Gewalt der Hamas zu protestieren? Wo war der UN Sicherheitsrat, der Israel unzählige Male verurteilt hat, um den Terrorangriff der Hamas einstimmig zu verurteilen?? Auch Juden in Deutschland müssen mitanhören, wie skandiert wird: "From the river to the sea, Palestine shall be free", was de facto die Auslöschung Israels bedeutet, oder "Walla, walla intifada", ein Aufruf zum Terror gegen Israel. Viele jüdische Studenten wagen sich kaum noch an die Unis, wo sie angepöbelt werden, oder wo in propalästinensischer Verblendung die Hamas als Befreiungsbewegung gefeiert wird.

Wir fühlen uns sehr allein, sagt der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde. Und fragt: Wo sind wir als Juden überhaupt noch erwünscht und sicher? Uns bleibt nur Israel. Aber wie lange werden Juden dort noch leben können.

Ich finde, die jüdische Gemeinschaft, auch hier in Wuppertal braucht Menschen, die sich sichtbar und hörbar an ihre Seite stellen, vor allem mit öffentlichem Widerspruch gegen judenfeindliche Hetze und die Dämonisierung des Staates Israel. Wenn Christen und Juden unverbrüchlich zusammengehören, wie der rheinische Synodalbeschluss gut biblisch bekennt, dann dürfen wir die jüdische Gemeinschaft in ihrem Schmerz, ihrer Angst und Sorge nicht allein lassen. Man kann gegen den Krieg in Gaza sein, ohne die Empathie für den immer bedrohten Staat Israel zu verlieren. Und umgekehrt: Man kann fest zu Israel stehen, ohne sich vor dem Leid der Palästinenser in Gaza und in den besetzten Gebieten zu verschließen.

Der Staat Israel ein Zeichen der Treue Gottes? Theologisch kann man darüber streiten. Unstrittig ist: Für viele jüdische Menschen ist er de facto die einzige Zuflucht vor weltweitem, oft gewalttätigen Judenhass. Und selbst die schlimmste Politik dieses Staates nimmt ihm nicht das Existenzrecht. Mit welchem Recht dürften sonst viele andere Staaten existieren – unser deutscher Staat mit seiner Vergangenheit eingeschlossen.

Gott verspricht: Ich will Amalek austilgen unter dem Himmel, dass man seiner nicht mehr gedenke. Das heißt: Die Gewalt, die sich gegen Wehrlose richtet und die auch das Leben der Starken zerstört, diese Gewalt soll nach Gottes Willen keine Zukunft haben. Sie wird keine Zukunft haben. Denn Gott verspricht: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken noch sie zu Herzen nehmen wird. Das ist unsere Hoffnung, auch für Israel. Auch für Gaza.


Sylvia Bukowski