"Warum wirst du ein Christ genannt? Könnten Sie darauf in eigenen Worten antworten? Das ist ja keine Wissensfrage wie: Welche Richtungen des Christentums gibt es in Deutschland? Sondern es meint Dich und Mich: Warum nennst Du dich Christ bzw. Christin? Dass ich eingetragenes Mitglied der Kirche bin, das kann ja die Antwort darauf noch nicht sein. Dass ich mich christlich verhalte oder sog. „christliche Grundwerte“ habe (davon ist ja viel die Rede) – auch das ist ja ein bisschen merkwürdig, wenn niemand genau sagen kann, worin die denn bestehen. Eine Glaubensgemeinschaft muss doch eine gemeinsame Basis haben, sonst wäre sie keine Gemeinschaft."
Gottesdienst am 31.12.2012 (Oestrich und Bod.)
Liebe Gemeinde,
ein englischer Seefahrer fährt auf hoher See, um neue Länder zu entdecken. Nachdem er längere Zeit unterwegs ist, kommt er an eine unbekannte Küste. Voller Begeisterung legt er an – neues Land, das er erobern kann, vielleicht Reichtümer gewinnen, auf jeden Fall ganz neue Erfahrungen machen. Das wollen wir doch alle! Und weil die Geschichte schon etwas älter ist und zu einer Zeit spielt, als England noch eine Weltmacht war, hisst der Seefahrer als erstes auf dem neuen Land die englische Flagge. Das muss selbstverständlich auf einem ganz besonderen Gebäude geschehen – und deshalb benutzt er dazu einen merkwürdig aussehenden Tempel. Allerdings hat sich bei der Kursberechnung der langen Seefahrt ein entscheidender Fehler eingeschlichen. Was er für einen merkwürdigen heidnischen Tempel gehalten hat, war in Wahrheit der königliche Pavillon im Seebad Brighton. Der Seefahrer hatte in Wahrheit keine unbekannte Insel entdeckt, die er – für wen auch immer – in Beschlag nehmen konnte. Sondern er war in seinem eigenen Land gelandet.
Mit dieser Geschichte beginnt der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (viele kennen ihn als Verfasser der Geschichten von Pater Braun[1]), sein Buch „Orthodoxie“[2]. Er gibt sich damit Rechenschaft über seinen Lebensweg. Aber was sollte diese Geschichte über jenen Seemann? Nun, sie erzählt von dem, was viele von uns bewegt: Wir wollen Neues entdecken! Es ist doch todlangweilig, wenn wir uns immer in den Schienen des Althergebrachten bewegen! Neue Ideen sind gefragt! Und so begeben wir uns auf Entdeckungsreise: Neue Menschen, interessante Ideen – kommen Sie mir bloß nicht mit alten Klamotten von früher! Und dann kann es uns dabei ergehen wie jenem Seemann: Wir stehen vor einem Gebäude, das wir noch nie zuvor gesehen zu haben meinen. Was für eine Architektur! Was für tolle Materialien! Hier kommen Dinge zusammen, die wir noch nie zuvor gedacht oder gesehen haben! Und dann die Erkenntnis: Huch, das ist ja gar kein sensationeller heidnischer Tempel! Das ist der königliche Pavillon in Brighton. Oder vielleicht bei uns irgendeine christliche Kirche.
Chesterton selbst hat es so auf den Punkt gebracht hat: „Der Seefahrer bin ich. Ich bin der Mann, der mit dem größten Wagemut entdeckt hat, was längst entdeckt war.“ Das war sein Weg gewesen: Er hatte viele Jahre an nichts geglaubt. Bzw., er hatte mit den traditionellen Glaubensaussagen nichts anfangen können, sie waren ja alt und verstaubt. Schließlich hatte er auf den Wegen, die er in Gedanken unternommen hatte, dann doch Gott gefunden. „Und wunderte sich über sich selbst, da doch alles – Bibel, Katechismus, Gemeinschaft der Gläubigen – für ihn von jeher offen zugänglich gewesen war.“[3]
Wir fragen: Was gibt es Neues im Jahr 2013? Gibt es neue Ideen im Raum von Glaube und Kirche? Etwas, was der Kirche neuen Schwung verleiht und Menschen neu motiviert? Christlicher Glaube ist ja nicht sehr angesagt. Spiritualität (wie man heute sagt, was früher Frömmigkeit oder geistliches Leben hieß), Spiritualität ja, aber doch bitte ohne Kirche. Und Glauben ist doch schließlich Privatsache – und da kann jeder glauben, was er will. So sagen und denken viele.
Dabei haben wir oft nur noch eine ganz dunkle Ahnung, was eigentlich die Schätze unseres Glaubens ausmacht. Im Jahr 2013 wird eine der Bekenntnisschriften unserer evangelischen Kirche, der Heidelberger Katechismus, 450 Jahre alt. In unserem Teil Westfalens war mehr der Kleine Katechismus Martin Luthers im Gebrauch. Aber beiden gemeinsam war, dass dort Sätze zum Auswendiglernen und Behalten standen. Zugegeben: Wenn der Konfirmandenunterricht vor allem darin bestand, solche Sätze einzupauken, dann war das sicherlich keine Methode, die für Jugendliche spannend war. Aber wer die Sätze des Katechismus nicht einfach wie ein Papagei nachgeplappert hat, sondern – so sagen die Engländer zum Auswendiglernen – wer diese Sätze mit dem Herzen gelernt hatte, der hatte ein solides Fundament des Glaubens.
Ich greife als ein Beispiel die Frage 32 heraus: Warum wirst du ein Christ genannt? Könnten Sie darauf in eigenen Worten antworten? Das ist ja keine Wissensfrage wie: Welche Richtungen des Christentums gibt es in Deutschland? Sondern es meint Dich und Mich: Warum nennst Du dich Christ bzw. Christin? Dass ich eingetragenes Mitglied der Kirche bin, das kann ja die Antwort darauf noch nicht sein. Dass ich mich christlich verhalte oder sog. „christliche Grundwerte“ habe (davon ist ja viel die Rede) – auch das ist ja ein bisschen merkwürdig, wenn niemand genau sagen kann, worin die denn bestehen. Eine Glaubensgemeinschaft muss doch eine gemeinsame Basis haben, sonst wäre sie keine Gemeinschaft.
Warum also wirst du ein Christ genannt? Der Heidelberger Katechismus sagt:
Weil ich durch den Glauben ein Glied Christi bin (ich teile mir die Antwort in einzelne Schritte auf). Ich bin es also nicht von selber, nicht von Geburt an und auch nicht, weil jeder irgendwohin dazugehören muss. Ich glaube an Jesus Christus – auf diesen Satz kommt es entscheidend an. Nicht mehr und nicht weniger. Ich muss nicht ein ausführliches Glaubensbekenntnis unterschreiben. Ich muss mich aber im Glauben zu dem Menschen und Gottessohn Jesus Christus verhalten. Der im Stall geboren ist. Der gelebt und gewirkt hat. Der Gottes Kraft zur Versöhnung war – und der dafür gekreuzigt wurde, gestorben ist und auferstanden. An ihm vorbei gibt es keinen christlichen Glauben. Aber wenn ich an ihn glaube, dann gehöre ich so fest zu ihm wie die Glieder zu einem Körper gehören.
Weiter: Ich habe durch diesen Glauben an seiner Salbung Anteil. Christus heißt übersetzt „der Gesalbte“, so lernen es auch heute noch unsere Konfirmanden. Und dann erzähle ich ihnen, dass damals Könige gesalbt wurden als Zeichen ihrer besonderen Würde und Jesus, der weder Macht noch Geld besaß, von uns wie ein König angesehen wird. Schön zu wissen – aber was hat das mit mir zu tun? Nun: Du hast an seiner Salbung Anteil. Weil Jesus Christus nie für sich selber und für seinen eigenen Ruhm gelebt hat, sondern weil er mit seinen Leuten so eng zusammengehört, dass sie mit ihrer Taufe sozusagen auch seine Salbung empfangen. Wir sind dann auch Menschen, die Gott wie Berufene, wie Ausgezeichnete ansieht.
Glauben – ausgezeichnet werden und dann: - sind wir dann Gläubige und wissen, dass wir auf Gottes Seite stehen? Nein, ich habe diesen Glauben, damit auch ich seinen Namen bekenne. Weil der Glaube nicht nur Privatsache ist, sondern zu einem Leben in der Nachfolge Jesu Christi drängt. So, wie er die Wahrheit Gottes in der Öffentlichkeit bekannt hat – mit der Konsequenz, dass er bereit war, für dieses Bekenntnis den Tod auf sich zu nehmen. so sollen auch wir die Sache Jesu Christi in der Öffentlichkeit bekennen. Christsein heißt, als aufmerksamer Mitmensch leben. Ein Auge für Not haben, für Menschen in Not.
Weiter: Ich soll mich ihm zu einem lebendigen Dankopfer hingeben. Das ist nicht unsere Sprache – aber da der Katechismus hinter jeder Zeile die Bibelstelle aufführt, auf die er sich bezieht, können wir einfach nachschlagen. Im 1. Petrus-Brief im 2. Kapitel: Ihr seid das Volk, das Jesus Christus sich zu eigen gemacht hat, ihr sollt Gottes Wohltaten verkündigen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.[4] Du bist als Christ nicht allein, Du gehörst zum Volk Gottes. Einem Volk, das er aus allen Völkern und allen Sprachen zusammengerufen hat. Einem Volk, das eine unglaublich positive Ausstrahlung hat. Nicht deshalb, weil alle Christen ein antrainiertes Lächeln auf den Lippen haben, sondern weil sie mit ihrem ganzen Leben daraus schöpfen, was Gott Gutes für sie getan hat. Aus der Finsternis, bei der ich nicht wusste, woher ich komme und wohin ich gehe in meinem Leben, hat er mich in sein Licht gerufen. Christ sein heißt, in diesem Licht zu leben, auch wenn es äußerlich manchmal sehr dunkel sein mag.
Wir sind immer noch bei der einen Antwort, die dann sehr aktiv und selbstbewusst davon redet, wie ich als Christ auftrete: Mit freiem Gewissen in diesem Leben gegen die Sünde und den Teufel streite. Christen verstecken sich nicht. Sie ducken sich nicht unter den Mächtigen, sie tarnen sich auch nicht in der Mehrheitsmeinung einer Kirche. Wer zu Jesus Christus gehört, der erfährt etwas von seiner königlichen Freiheit und tritt auch so auf. Der jammert nicht darüber, wie schlimm die Welt ist, sondern kämpft gegen die Sünde und den Teufel – in welcher Gestalt der auch immer auftritt. Weil ja nun wirklich nicht alles in Ordnung ist. Jesus hat die Mächte der Unterdrückung und Gewalt beim Namen genannt, er hat mit ihnen gerungen – in jedem Kampf um die Gesundheit von Menschen, im Eintreten gegen Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Glauben ist nicht nur eine innere Überzeugung, das drängt nach außen. Weil in Gottes Namen vieles nicht zu ertragen ist. Keine Geschäfte mit dem Tod oder der Unterdrückung von Menschen, keine Politik, die nicht Arbeit und Sattwerden der Menschen vor allem anderen fördert.
Und schließlich werde ich ein Christ genannt, weil ich hernach in Ewigkeit mit ihm über alle Geschöpfe herrsche. Ja, er ist der, der zur Rechten des Vaters sitzt. Durch Jesus Christus strömt Gottes heiliger Geist in unsere Welt hinein. Und wenn ich als sein Glied zu ihm gehöre, dann teile ich diese wahrhaft stolze Aussicht. Ich will die Geschöpfe der Erde nicht beherrschen – mit ihm, mit Jesus, will ich die Herrschaft im neuen Licht sehen. Will ich erfahren, wie einer für den anderen zum Bruder und zur Schwester werden kann. Die Art des sanftmütigen Heilands zu herrschen – das ist das letzte Wort Gottes. Und dabei darf und kann und soll ich Anteil haben.
Eine einzige Frage. Und überall ist am Rande notiert, wo ich dazu etwas in der Bibel finde. Weil christlicher Glaube kein Phantasieprodukt, das ich mir ausdenke oder irgendjemand anders, der das vielleicht noch viel netter und gefälliger sagen kann. Christlicher Glaube ist Leben in der Spur Jesu Christi. Und die finden wir nur, wenn wir uns in der Bibel davon erzählen lassen.
Die Bibel aufschlagen, liebe Gemeinde – das könnte ein ähnlich aufregendes Unternehmen sein wie jene Seefahrt, wie Chesterton sie beschreibt. Wir müssen dann nur schon nachlesen, nicht einfach ein Stichwort herauspicken, das wir uns nach unserem Gutdünken zurechtbiegen. Ein Bibelwort zum Übergang ins Neue Jahr? Nehmen wir doch einfach den Psalm, der seit vielen Jahrhunderten dem Sonntag nach Weihnachten zugeordnet ist, den Ps 71. Ich lese Ihnen daraus einige Verse vor:
14 Ich aber will allezeit harren
und mehren all deinen Ruhm.
15 Mein Mund tue deine Gerechtigkeit kund,
deine Hilfe den ganzen Tag,
ich kann sie nicht ermessen.
16 Dank der großen Taten Gottes des HERRN gehe ich hin,
deine Gerechtigkeit allein will ich rühmen.
Merken Sie, wie dicht wir damit bei den Worten des Heidelberger Katechismus sind? Nicht danach wollen wir streben, wie wir zu Ruhm und Ansehen kommen, sondern Gottes Ruhm wollen wir groß machen in dieser Welt. Von seiner Gerechtigkeit und seinen großen Taten wollen wir reden – dann kann die menschliche Gerechtigkeit auf dieser Erde in die richtige Richtung wachsen.
Dann wird es sehr persönlich in unserem Psalm 71:
17 Gott, du hast mich gelehrt von Jugend an,
bis heute verkünde ich deine Wunder.
18 Auch bis ins hohe Alter,
Gott, verlass mich nicht,
damit ich der Nachwelt deine Taten verkünde,
allen, die noch kommen werden, deine Macht.
Da sind wir mit unserer Lebenszeit. Mit unserer Angst vor der Vergänglichkeit, vor dem Nachlassen unserer Kräfte. Ja, ich bitte darum, dass Gott mich nicht verlässt, weil das ja nicht selbstverständlich ist, weil ich ihn ja nicht an der Hand habe, sondern ER mich. Aber ich erinnere mich doch daran, wie er mich von klein an in seine väterliche Belehrung genommen hat. Einen Moment Nachdenken, der uns sicher guttut: Wie hat Gott mich in seine väterliche Erziehung hineingenommen, wie hat er mich auf seine Wege geführt – und wie bin ich gegangen?
Und am Ende – so könnte ich es mir vorstellen – kann als Hoffnung für das Neue Jahr nichts Besseres stehen als dieser Segenswunsch aus dem Psalm 71:
19 Denn hoch reicht, Gott, deine Gerechtigkeit,
der du Großes getan hast.
Gott, wer ist dir gleich?
20 Der du uns viel Angst und Not hast erfahren lassen, du wirst uns wieder beleben.
Amen.
[1] Der sanftmütige Priester-Detektiv, der im englischen Original als Father Brown figuriert, ist beim deutschen Publikum als Pater Brown eingeführt, wahrscheinlich unwiderruflich, wenngleich nicht völlig korrekt. Denn das englische "Father" stellt nicht anders als das französische "Père" die Anredeform für Weltgeistliche dar, wäre somit am besten mit "Hochwürden" wiederzugeben, während "Pater" im deutschen Sprachgebrauch der Titel eines Ordensgeistlichen ist. http://www.blogigo.de/Thundes_Corner/Gilbert-Keith-Chesterton/4221/
[2] Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000.
[3] Anne-Kathrin Helms in FAS 23.12.2012, S.9
[4] 1. Petr 2, 9