Liebe Gemeinde!
Der „Verborgene Schatz in unserem Gesangbuch“ für die Adventzeit - sie werden es dem Gemeindebrief entnommen haben (siehe unten 1)) – ist das Lied 614. Auf den ersten Blick eine überraschende Wahl, handelt es sich dabei doch um kein Adventslied. Ein paar erläuternde Worte dazu konnten Sie im Gemeindebrief auch schon lesen: Dieses Lied basiert auf dem Text von Psalm 24 – genau wie das Lied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ - eines der bekanntesten Adventslieder. Während aber „Macht hoch die Tür“ nur den letzten Teil von Ps 24 zum Ausgangspunkt nimmt, behandelt Lied 614 den ganzen Psalm.
Lied 614 ist ein Lied aus dem sog. „Genfer Psalter“. Als in Genf 1536 die Reformation eingeführt wurde, stellte sich auch die Frage, wie die Gottesdienste und der Gemeindegesang reformiert werden sollten. Die Reformation in Deutschland war ja nicht zuletzt deshalb so erfolgreich gewesen, weil sie viele Lieder in der Landessprache hervorbrachte, die die reformatorischen Gedanken in den Köpfen und vor allem in den Herzen der Menschen verankerten. Johannes Calvin, der Reformator Genfs, war der Ansicht, dass man gar kein neues, eigenes Gesangbuch brauchte, da die Christen ja bereits ein Gesangbuch haben: Die Psalmen – die 150 Lieder, die im alttestamentlichen Buch der Psalmen zusammengestellt sind. Diese Lieder brauchte man nur noch in die Sprache zu übersetzen, die in Genf gesprochen wurde – also ins Französische. Später, mit der Ausbreitung der Reformierten in Deutschland, den Niederlanden, England, Schottland, Amerika, folgten Übersetzungen der französischen Genfer Psalmen in die diversen Landessprachen. Etwas mehr als 20 dieser reformierten Psalmen finden sich auch in unserem Gesangbuch.
Johannes Calvin befand sich ein bisschen in einer Zwickmühle: Einerseits wollte er sich schon die emotionale Kraft der Musik zu Nutze machen; andererseits schrieb er der Musik aber auch – zu Recht - die Gefahr zu, menschliche Leidenschaften zu wecken – und das war ihm unheimlich. Deshalb forderte er für die Melodien der Psalmen „Gravität und Majestät“. Dies schlägt sich in einigen typischen Eigenschaften der Melodien nieder: Sie sind sehr einfach und schlicht gehalten, sowohl in der Rhythmik (meist nur zwei verschiedene Notenwerte) als auch in der Melodieführung (meist nur Schritte oder kleine Tonsprünge). Ligaturen – also die Verbindung von mehreren Tönen auf einer Silbe - wurden nach Möglichkeit vermieden, der Dreierrhythmus war – weil Tanzrhytmus - ebenso verboten wie die Punktierung. Daher sind die reformierten Psalmen bei weitem nicht so beliebt wie etwa die Lieder von Paul Gerhardt; sie berühren einfach nicht so unmittelbar das Gemüt. Für jemanden wie mich, der in einer reformierten Gemeinde aufgewachsen ist, in der in jedem Gottesdienst mindestens ein reformierter Psalm gesungen wurde, sind sie dennoch musikalische Heimat – wie das einem eben so geht mit den Liedern, die man in seiner Kindheit kennen und lieben gelernt hat.
Aus Sicht des Theologen haben die reformierten Psalmen einen großen Vorteil: Sie halten sich sehr genau an den alttestamentlichen Text der Originalpsalmen. Beim Vergleich zwischen Lied 614 und „Macht hoch die Tür“ sticht ja sofort ins Auge, dass „Macht hoch die Tür“ nur den letzten Teil des Psalms aufgreift. Dadurch fällt das Lob Gottes als Schöpfer weg; dadurch fällt auch die Überlegung weg, wer denn überhaupt geeignet ist, vor Gott zu treten - in seinem Tempel anzubeten.
Nicht alle Themen sind zu jeder Zeit gleich wichtig und gewichtig. Deshalb ist es durchaus in Ordnung, dass bei einer Nachdichtung eines biblischen Textes nicht alle Aspekte berücksichtigt werden. So wie ja auch in einer Predigt nie alle Aspekte eines Predigttextes behandelt werden können – sonst würden die Predigten eine Stunde oder länger dauern (was übrigens in reformierten Gottesdiensten bis vor gar nicht allzu langer Zeit üblich war: Eine reformierte Predigt durfte nicht unter einer ¾ Stunde dauern – sonst war das nix; so kenne ich das noch aus meiner Kindheit …)
Man kann nicht immer alles behandeln - aber es ist gut, wenn man so eine Art Vorratskammer hat, wo auch das, was gerade nicht aktuell ist, verstaut werden kann für andere Zeiten, wenn man es wieder dringend braucht. So eine Vorratskammer ist der Genfer Psalter für mich.
Und es gibt noch etwas anderes, was mir die Texttreue des Genfer Psalters lieb und wert macht. Es gab eine Neigung in der christlichen Theologie, die Gewichte von Gott weg ganz auf Jesus zu verlagern. Diese Neigung kann man sehr schön an diesen beiden Liedern nachvollziehen.
Im Psalm 24 lautet die Antwort auf die Frage: „Wer ist der König der Ehren?“ ganz klar: „Es ist der Herr.“ - wobei das Wort „Herr“ Luthers Umschreibung des unaussprechlichen Gottesnamens ist: „Herr“ steht also ganz eindeutig für „Gott“. Der König, dessen Einzug hier gefeiert wird, ist Gott. Das an sich ist schon eine Überraschung – dass nicht ein großartiger König Israels gemeint ist – wie z.B. David oder Salomo. Sondern der König Israels ist Gott selber. Dieses Bekenntnis zu Gott als König – das hat es in sich. Das ist nämlich nicht zuletzt auch eine ganz gehörige Kritik an weltlicher, politische Herrschaft; das hat etwas durchaus subversives, d.h. Nämlich: Damit werden Machtansprüche in Frage gestellt, ja geradezu untergraben
In der 5. Strophe von „Macht hoch die Tür“ bitten die Singenden dagegen: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.“ Ich schätze an diesem Lied ganz ausgesprochen, wie es den erwarteten König beschreibt – in der 2. Strophe: „Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt … sein Zepter ist Barmherzigkeit; all unsre Not zum End er bringt.“ Auch das ist das Idealbild eines Herrschers, das in Spannung steht zu der faktisch ausgeübten politischen Herrschaft der damaligen Zeit – im 17. Jh. - in der Zeit des 30-jährigen Kriegs. Aber auch heute bei uns - in einer Demokratie - gelten ja Eigenschaften wie Sanftmut und Barmherzigkeit nicht als unbedingt hilfreich für eine politische Karriere. Aber in diesem Lied ist es eben Jesus, der in die Herzen einzieht – nicht Gott, der in die Hauptstadt Jerusalem einzieht, um auf seinem Thron Platz zu nehmen.
Was in „Macht hoch die Tür“ noch einigermaßen im Gleichgewicht, ist dann in vielen anderen Texten und Liedern doch arg verrutscht, Zum Beispiel gibt es eine fantastisch schöne Tenorarie in Johann Sebastian Bachs Kantate zum 1. Advent über „Nun komm der Heiden Heiland“, und da heißt es: „Komm, Jesu, komm, zu deiner Kirche“. Da ist die umfassenden – die universale Hoffnung des Psalms 24, die auch den politischen Bereich einschließt, ganz ins Religiöse abgerutscht.
Und damit hat - evangelische – Innerlichkeitstheologie und Innerlichkeitsfrömmigkeit – das müssen wir uns eingestehen – der Verflachung mindestens Vorschub geleistet, in der heutzutage nur noch das Christkind erwartet wird – als Schmieröl für das Weihnachtsgeschäft; der Sand im Getriebe, der die Adventserwartung eigentlich ist, ist gründlich unschädlich gemacht.
Da finde ich es gut, immer wieder einmal zu singen: „Empfangt den König mit Ehren! Es kommt der Herr der Herrlichkeit. … Macht eure Tor und Türen weit, dem Herrn der Erde zu begegnen.“ Denn hier wird die universale Dimension des Advent besungen. Das geht alle Welt an – denn der, der die Welt geschaffen hat, dem sie gehört, mit allem was darin ist – der kommt. Und sein Kommen nötigt zum Innehalten, nötigt dazu, Rechenschaft abzulegen: „Wer hat das Recht, ihn zu schauen? … Die reinen Herzens ihm trauen, von Lug und Trug sich halten fern, werden den Segen Gottes sehen.“ Adventszeit ist die Zeit, sich vorzubereiten auf die Begegnung mit dem Herrn der Erde!
Dass der Herr der Erde uns in Gestalt eines kleinen, armen Kindes entgegenkommt – das macht die Erwartung ja nicht etwa niedlich, sondern gibt ihr erst Recht eine subversive – eine umstürzlerische Note: Statt nach oben – in den Himmel oder in die Paläste - zu starren, werden wir genötigt, nach unten zu schauen. Gott, der Herr der Welt, als armes Kind will unsere Stellungnahme – ja noch mehr: Dieses Kind ruft uns in seine Nachfolge.
Niedlich ist das nicht gerade – und auch nicht sehr gemütlich. Es ist - Advent.
Dr. Tobias Kriener, Pfarrer in Hersel, Dezember 2012
1) Im Gemeindebrief heißt es unter der Überschrift "Verborgene Schätze in unserem Gesangbuch"
Folgende Lieder werden wir in der Reihe „Verborgene Schätze in unserem Gesangbuch“ in den nächsten drei Monaten regelmäßig im Gottesdienst singen:
ADVENT: EG 614 „DEM HERRN GEHÖRT UNSRE ERDE“
Dieses Lied ist für die Adventszeit sicherlich ungewöhnlich, deshalb soll eine kurze Erklärung die Auswahl begründen.
Unser bekanntestes Adventslied „Macht hoch die Tür“ (EG 1) basiert auf dem Text von Psalm 24, ab Vers 7.
„Dem Herrn gehört unsre Erde“ (EG 614) nimmt auch Psalm 24 als Textgrundlage, beginnt allerdings schon mit Vers 1. Erst wenn wir dann die 3. Strophe singen, heißt es auch hier: “empfangt den König mit Ehren, es kommt der Herr der Herrlichkeit….macht eure Tor und Türen weit….
Foto: Max Hintzen, „Zwischen Schloss und Riegel“, CC-Lizenz (BY 2.0), www.piqs.de