Trompe l‘Oeil

Mittwochskolumne von Paul Oppenheim

© Ron Przysucha / public domain

Aus Frankreich und aus vielen Hauptstädten Europas ist lautes Aufatmen zu vernehmen. Ein skurriles Wahlrecht hätte den Rechtsextremen beinahe die absolute Mehrheit im Parlament beschert. Dasselbe Wahlsystem sorgte für eine große Überraschung.

Weil Frankreich kein Verhältniswahlrecht kennt, erzeugen Wahlergebnisse optische Täuschungen, die man auf Französisch auch als „trompe l’oeil“ bezeichnet. Die Zusammensetzung des Parlaments soll nach dem französischen Wahlsystem nicht das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den politischen Parteien widerspiegeln, sondern dafür sorgen, dass die stärkste Partei möglichst mit absoluter Mehrheit regieren kann. Das Rassemblement National von Marine Le Pen hatte somit beste Chancen, bei den Parlamentswahlen dieses Ziel zu erreichen, da es aus dem ersten Wahlgang mit 33 Prozent als Sieger hervorging.

Beim zweiten Wahlgang wurde Marie Le Pens Partei mit 37 Prozent der abgegebenen Stimmen mit noch deutlicherem Abstand stärkste Partei. Eine „republikanische Front“ aus Linksparteien und der Anhängerschaft des Präsidenten Macron konnte aber den „worst case“ um Haaresbreite verhindern. Über 200 Kandidaten zogen ihre Kandidatur zurück, um gegen die Rechtsextremen als geschlossene Front aufzutreten. Dank dieser Wahltaktik kam zum Ausdruck, dass über die Hälfte der Wählerschaft den Rechtspopulismus ablehnt.

Das Wahlergebnis ergab, dass die rechtsextreme Partei nur als dritte Kraft ins Parlament einziehen wird, während das linke Wahlbündnis mit 26 Prozent der Stimmen die größte Fraktion stellt und die Partei Macrons mit nur 23 Prozent der Stimmen zur zweitgrößten Gruppe im Parlament wird.

Die abgewendete Gefahr eines Erdrutschsiegs der Rechtspopulisten ist trügerisch, denn die Wählerschaft der Rechtsextremen hat sich seit den jüngsten Europawahlen noch vergrößert.

Immer mehr französische Politikerinnen und Politiker plädieren für eine Änderung des Wahlsystems, damit es bei möglichen Neuwahlen im kommenden Jahr nicht doch zur absoluten Mehrheit des Rassemblement National in der Naionalversammlung kommt. In den kommenden Wochen und Monate wird es entscheidend darauf ankommen, ob man sich durch eine optische Täuschung beruhigen lässt oder auf die wahren Mehrheitsverhältnisse schaut.


Paul Oppenheim