Die Diskussion um die Orientierungshilfe zum Thema Familie der EKD dreht sich im Wesentlichen darum, ob sich die Evangelische Kirche dem Zeitgeist zu nachgiebig zeigt. So behaupten es Vertreter evangelikaler Verbände, Prediger und Theologen und eher konservative Medien stimmen mit ein. Das Papier selbst ist daran nicht unschuldig, denn es argumentiert vornehmlich mit der Beobachtung der gelebten Familienmodelle, deren Veränderung man sich nicht verschließen könne. So entsteht der Eindruck, die Kirche befinde ich in einem Rückzugsgefecht und stehe kurz vor der Kapitulation.
Dieser Eindruck ist fatal und unnötig. Denn was die protestantischen Kirchen theologisch stets ins Feld geführt haben, gilt auch für die Ehe und die Familie: Es geht um Freiheit. Ja, ich weiß, das Wort klingt in diesem Zusammenhang geradezu anrüchig. Deshalb liest man in diesen Tagen wenig von evangelischer Freiheit aber viel von aufgegebenen Bastionen.
Eine solche Bastion ist die „Stiftung Gottes“, als die die Ehe jahrhundertelang bezeichnet worden ist. Als eine "besondere Anordnung Gottes" soll das Zusammenleben von uns Menschen angeblich unter einen besonderen Schutz gestellt sein. Der Preis dafür ist allerdings, dass es besondere Eingangsbedingungen (Eheversprechen) für diesen Schutzbereich gibt. Und innen drinnen gelten auch nicht die normalen Bedingungen, sondern da sind die einander Versprochenen einer besonderen Gehorsamspflicht unterworfen (lebenslange Treue). Die Einsicht in die Unzulänglichkeit des Menschen (Sünde) und das Vertrauen auf die Vergebung Gottes (Rechtfertigung) reichen hier nicht: der Mensch muss es 'schaffen'. Was kommt in die Klammer? Richtig: (Werkgerechtigkeit)!
Das protestantische Prinzip ist natürlich ein anderes: Es kann keinen Bereich des Lebens geben, der in irgendeiner Weise davon ausgenommen ist, dass wir Menschen in jedem Moment für unser Verhalten verantwortlich und gleichzeitig von Gott in unserer Fehlerhaftigkeit angenommen sind. Das ist evangelische Freiheit und die gilt – so meine ich jedenfalls – für ein Eheversprechen selbstverständlich auch. Eine zusätzliche oder weitergehende Kategorie der Verpflichtung von uns Menschen kann es nicht geben. Warum sollte es auch? Ist das denn nicht genug?
In der Vergangenheit ist dies freilich genau so vermittelt worden und spukt heute noch durch manche theologische Ethik. Das Eheversprechen wurde überhöht als ein dem Bund Gottes mit uns Menschen äquivalentes Versprechen, das entsprechend unverbrüchlich sein sollte. Die Folgen dieser theologischen Überhöhung waren in der Vergangenheit deshalb besonders fatal, weil sich der Anspruch der lebenslangen Bindung zudem noch zur Handlangerin der Männerherrschaft machen ließ.
Es folgte in der Neuzeit das vermeintlich frei gegebene Versprechen. Allerdings: Ein Schwören ewiger Treue – schon gar in einer Kirche – verbietet sich eigentlich von selbst, da uns als unvollkommenen Menschen das Schwören nicht ansteht. Wir heiraten ja auch nicht, weil Gott das so will, sondern weil wir uns davon ein erfülltes Leben versprechen. Und wir übernehmen Verantwortung füreinander, weil wir uns – einschließlich unserer Kinder – lieben. Das geschieht in derselben Vorläufigkeit und Ernsthaftigkeit wie Anderes in unserem Leben auch.
Denn wenn es für die Ehe irgendwelche Sonderbedingungen Gottes bräuchte, würde sich die Frage aufdrängen, warum es die nicht auch für andere Bereiche gibt: Warum stiftet Gott nicht zum Beispiel die Institution der weltweiten Gerechtigkeit? Warum wursteln wir Menschen in dieser so wichtigen Angelegenheit weiter ohne besonderen Segen Gottes herum?
Nein, es braucht keine Stiftung und kein Schwören und keinen besonderen Segen. Es reicht völlig ein einfacher Segen und ein Versprechen im Bewusstsein der Vorläufigkeit. Und das nicht, weil es so am einfachsten ist oder sich eh schon so eingebürgert hat, sondern weil es so richtig ist. Weil es so dem entspricht, was wir Sonntag für Sonntag als Quintessenz der Bibel predigen, hören und glauben.
Die Aufgabe der Kirche ist es sodann, Werte zu vermitteln, die es für eine gute Beziehung und ein Familienleben braucht. Diese Werte sind nicht auf die Ehe beschränkt, sondern lassen sich auf andere Bereiche des Lebens ausweiten. Da geht es um Rücksicht, Respekt, um den Schutz der Schwächeren, die ökonomische Verantwortung füreinander. Und natürlich um das Heranwachsen der Kinder zu selbständigen und selbstbewussten Menschen.
Die Ehe und die Familie hat sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende ständig den Gegebenheiten angepasst. Und die jüdische Religion, die katholische Kirche und später die Kirchen der Reformation haben sich mehr oder weniger ruhmvoll darum gekümmert, dass diese Werte in den Familien und Beziehungen eine Rolle spielen. In die Rolle einer Behüterin der romantisch-bürgerlichen Ehe hat sich der Protestantismus in verhängnisvoller Weise hineindrängen lassen. Viel früher schon wären die heute aufgebrochenen Erkenntnisse ein Grund zum Umdenken gewesen.
Jetzt geht es darum, das protestantische Bild von Ehe, von anderen Beziehungsformen und von der Familie mit den oben genannten Werten zu verbinden. Das ist eine ungleich schwierigere Aufgabe, als von einer Stiftung Gottes zu schwadronieren und den Menschen ein Bild von der Ehe mit auf den Weg zu geben, das sich theologisch geradezu konträr zu dem verhält, was sonst gepredigt wird. Aber es ist eine hoffnungsvolle Aufgabe, wenn sie mit der Inbrunst evangelischer Freiheit vorgetragen und geübt werden kann. Von Rückzug keine Spur!