Der Brunnen der Vergangenheit

Predigt zu 1. Mose 37


Brunnen in der Wüste © Pixabay

Normalerweise assoziieren wir mit einem Brunnen etwas Positives: Eine Quelle. Eine Erfrischung. Wasser! Eine Predigt von Simon Froben (Bayreuth) über Wasser, in dem Verderben liegt.

Normalerweise assoziieren wir mit einem Brunnen etwas Positives: Eine Quelle. Eine Erfrischung. Wasser! Aber gleich bei der ersten Brunnengeschichte werden wir deutlich daran erinnert, dass die ersten Brunnen, die in der Bibel erwähnt sind, die Brunnen sind, aus denen die zerstörerischen Wasser der Sintflut emporsteigen (1. Mose 7,11) – Brunnen des Verderbens. Der Brunnen, um den es in 1. Mose 37 geht, führt uns in eine Tiefe, in der Lebenskraft liegen kann, aber auch Verderben – der Brunnen der Vergangenheit.

Jakob hatte von allen seinen Söhnen den Joseph am liebsten, weil er ihm erst im Alter geboren worden war. Deshalb ließ er ihm ein prächtiges Gewand machen. Als seine Brüder sahen, dass der Vater ihn mehr liebte als sie alle, wurden sie so neidisch, dass sie kein freundliches Wort mehr mit Joseph redeten. Außerdem hatte Joseph Träume. Als er diese Träume seinen Brüdern erzählte, wurden sie noch böser auf ihn. Eines Tages, als die Brüder mit den Herden auf den Weiden waren, gab Jakob dem Joseph den Auftrag: „Erkunde, wie es deinen Brüdern geht! Sieh zu, ob bei den Herden alles in Ordnung ist, und bring mir dann Bescheid!“ So schickte Jakob ihn aus ...

Die Brüder sahen Joseph schon von weitem. Während er sich näherte, fassten sie den Plan, ihn zu töten. Sie sagten zueinander: „Da kommt der Kerl, dem seine Träume zu Kopf gestiegen sind! Schlagen wir ihn doch tot und werfen ihn in die nächste Zisterne! Wir sagen einfach: Ein Raubtier hat ihn gefressen. Dann wir man schon sehen, was aus seinen Träumen wird!“ Ruben aber wollte Joseph retten, „Lasst ihn am Leben!“sagte er. „Vergießt kein Blut! Werft ihn in die Zisterne da drüben in der Steppe, aber tut ihm nichts zuleide.“ Er hatte die Absicht, Joseph heimlich herauszuziehen und zu seinem Vater zurückzubringen.

Als Joseph bei ihnen ankam, zogen sie ihm sein Prachtgewand aus, packten ihn und warfen ihn in die Zisterne. In der Zisterne war gerade kein Wasser. Dann setzten sie sich zum Essen. Auf einmal sahen sie eine Karawane mit ismaelitischen Kaufleuten aus der Richtung von Gilead herankommen. Die Ismaeliter waren auf dem Weg nach Ägypten; ihre Kamele waren mit den kostbaren Harzen ... beladen. Da sagte Juda zu seinen Brüdern: „Was nützt es uns, wenn wir unseren Bruder umbringen? Wir werden nur schwere Blutschuld auf uns laden. Lassen wir ihn leben und verkaufen ihn den Händlern; er ist doch unser Bruder!“ Die anderen waren einverstanden. So verkauften sie Joseph für 20 Silberstücke an die Ismaeliter, die ihn nach Ägypten mitnahmen.

Liebe Gemeinde!

Die Söhne Jakobs sind in ihrem Leben viel herumgekommen. Noch im Kindesalter zogen sie mit Jakob vom Ostland nach Sichem in Kanaan, als Viehhirten kannten sie dann schon bald im weiten Umkreis des Landes die guten und die schlechten Weiden, und später dann, als Dürre und Hungersnot über das Land kamen, mussten sie mehrmals ins ferne Ägypten ziehen, denn dort waren die Kornspeicher voll – trotz der Dürre. Das lag daran, dass der ägyptische Pharao einen besonders klugen Haushalter hatte. Joseph war sein Name. Auch er ein Weitgereister. Auch er ein Sohn eben des schon genannten Jakob von Sichem. Ein Bruder also der anderen Söhne Jakobs sollte man meinen. Aber war er, der Joseph, das wirklich noch: Bruder? Oder war diese Bruderschaft erloschen, ausgetilgt aus dem Buch der Lebenszusammenhänge? Ausradiert durch die schändliche Tat der Jakobsöhne an ihrem Bruder Joseph, als sie ihn in die Zisterne, in den Brunnen warfen und als Sklaven nach Ägypten verkauften?

Diese Brunnengeschichte haben wir bereits als Lesung gehört. Was mögen Sie wohl gedacht haben, die Söhne Jakobs, die Rubens und Issachars, Levis und Sebulons, wenn sie viele Jahre später an diesem Josephsbrunnen bei Dotan oder auch an anderen Brunnen vorbeizogen? Jahrelang haben sie ihre Tiere hier geweidet, sich selbst an den Brunnen und Zisternen des Landes mit frischem Wasser gelabt und dabei schon lange nicht mehr an das bittende Flehen und Klagen gedacht, dass da nach vollbrachter Tat aus dem Josephsbrunnen zu ihnen emporstiegen war. Aber nun, in der Not, als sie sich selbst als jammervolle Bittsteller auf den Weg ins ferne Ägypten machen mussten, da mögen sie sich wieder dieses Brunnens erinnert haben. Unwillig. Ein Klagen, ein Flehen aus der Vergangenheit, nicht unähnlich dem eigenen Jammer nun in der Hungersnot. Was mögen Sie wohl gedacht haben, die Söhne Jakobs, die Simeons und Benjamins, die Gads und Naftalis, wenn dieses längst vergessene Flehen wieder in ihre Ohren stieg, wenn sie einen der Brunnen auf dem langen Weg nach Ägypten nur von Ferne sahen? Auch diese Brunnen waren nun, genau wie einst der Josephsbrunnen, ausgetrocknet und leer. So wiederholt sich die Geschichte.

Was also mögen Sie wohl gedacht haben, die Söhne Jakobs, die Judas, Dans und Assers? Jetzt, wo ihre Vergangenheit sie einholte, wo es aus den Tiefen ihrer eigenen Vergangenheit rumorte und polterte, das dem Betrachter nur Angst und Bange werden kann, jetzt wo das vermeintlich Vergangene, längst Abgeschlossene wieder emporkam mit dem Verwesungsgeruch des alten Neides, der gescheiterten Bruderliebe und – ja auch! –der Schuld?

Was mögen Sie wohl gedacht haben, die Söhne Jakobs? Die Antwort auf diese Frage ist überraschend kurz: Nichts! Sie haben schlichtweg nichts gedacht. Oder: Zumindest ist in der Bibel nichts überliefert. Da steht eben nicht – wie mancher es wohl erwartet hätte –, dass der Anblick von Brunnen den untreuen Brüdern zeitlebens oder doch zumindest jetzt, in der eigenen Not, im eigenen Flehen irgendein besonderes Unbehagen bereitet hätte. Ein Unbehagen, das noch über das Unbehagen hinausgeht, das sie natürlich in ihren leeren und durstgequälten Mägen immer dann besonders deutlich spürten, wenn sie an so einem von der Dürre ausgetrockneten Brunnen vorbei kamen.

Nichts haben sie gedacht! Auch nicht, als sie Joseph, der seine einstigen Peiniger natürlich sofort wieder erkannt hat, direkt gegenüber standen, Auge in Auge. Noch nicht einmal erkannt haben sie ihn. So weit hatten sie das Geschehene verdrängt. Verbannt aus dem reichen Buch der Erinnerungen. Tabu war das. „Joseph? Wer ist Joseph?“

Liebe Gemeinde!

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“Mit dieser kurzen Feststellung und mit dieser Frage beginnt der erste Teil von Thomas’ Manns epochalem Roman „Joseph und seine Brüder“. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? ... Da denn nun gerade geschieht es, dass, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen.“

Thomas Mann hat natürlich nicht nur die Lebensgeschichte einer Generation – etwa die des Joseph und seiner Brüder – vor Augen. Er denkt und schreibt in Zeitaltern. In Äonen. Aber so oder so: Worum es ihm geht und worum es auch in der Josephsgeschichte geht: Das ist das unverbrüchliche, aber auch undurchschaubare Miteinander von Vergangenheit und Zukunft, um die nicht auslotbaren Tiefen des Lebens. Wenn einen etwa die Vergangenheit wieder einholt. Das kann die eigene individuelle Vergangenheit sein, oder auch die familiäre, ethnische, kulturelle, nationale Vergangenheit. Wir schweben in unserem Leben, in dem, was wir als unsere Gegenwart wahrnehmen, eben nicht in einem luftleeren Raum ohne Bezüge. Vielmehr gibt es – zum Teil offen zu Tage tretend, zum Teil aber auch tief verborgen in schier unergründlicher Tiefe unseres Bewusstseins (und in heutiger Zeit mag man auch noch dazusagen: unserer Gene) – enge Verknüpfungen, Prägungen, Abhängigkeiten, ja sogar Gefangenschaften.

So wie Joseph gefangen im Brunnen sitzt, weil seine jüngste Vergangenheit ihn, den Arglosen, der wirklich davon nichts ahnte, eingeholt hat: Der Neid der Brüder, die sich vom Vater zurückgesetzt fühlten. Weil es wirklich eine Affenliebe war, mit der Jakob den Joseph bedachte: Ein bunter schmuckvoller Rock für ihn, den Jüngsten, dem der Vater keine schweren Arbeiten zutrauen mochte. Joseph der Jüngste, das Nesthäkchen, wenn man so will – wer kennt das nicht?: Die Älteren müssen immer alles erarbeiten und die Jüngeren werden auf samtenen Kissen durchs Leben getragen. Ein Klassiker unter den Familienzwisten. Da kann schon einmal Neid aufkommen.

Wenn ich gerade sagte: Joseph, der Jüngste, dann stimmt das nicht ganz: Einen jüngeren Bruder gibt es noch: Benjamin. Aber bei seiner Geburt ist Jakobs geliebte Frau Rahel gestorben und so wurde eben Joseph verhätschelt und bevorzugt – das sind die tieferen Zusammenhänge, die man von außen wohl sehen und wahrnehmen kann, die aber für Joseph selbst sicherlich unergründlich blieben – solange zumindest, bis sie ihn gefangen nahmen, tief unten im Brunnen.

Was mag Joseph sich wohl gedacht haben, dort unten in der Dunkelheit der Zisterne, in der die Fetzen seines neuen Rockes so gar nicht mehr bunt aufleuchten wollten? Ob er nun verstanden hat, warum er da unten saß? Ob er nun verstanden hat, welche Bürde ihm durch die Familienkonstellation als zweitjüngster, hemmungslos geliebter Sohn da auf die Schultern gelegt worden war? Und ob er nun verstanden hat, dass er in seinem bisherigen Leben zu sehr auf die Zukunft geschaut hatte? Das war ja eine besondere Gabe, die Gott ihm verliehen hatte – und wieder konnte er nichts dafür. Seine Träume, die ihm Einblicke in die Zukunft ermöglichten und die ihn schon damals sehen ließen – noch bevor ihn im Brunnen die eigene Herkunft, die eigene Vergangenheit in Form der sinnlosen Gewalt der neidvollen Brüder einholte – die Träume also, die ihn schon damals voraussehen ließen, was viel, viel später in Ägypten passieren würde: Die Brüder neigen sich ehrfurchtsvoll als hungrige Bittsteller vor ihm nieder. Solche Träume hatte Joseph schon als zarter Jüngling, als er noch nicht viel vom Leben wusste. Wie naiv von ihm, mit diesen Träume ausgerechnet vor seinen Brüdern zu prahlen!

Was also mag Joseph sich gedacht haben in der Tiefe des Brunnens? Auch hier wissen wir nichts, können aber immerhin erahnen, dass dieses Brunnenerlebnis ein innerer Wendepunkt in seinem Leben werden sollte. Natürlich war das ein Wendepunkt: Mit einem Mal befand sich Joseph in der wohl undenkbar schlechtesten Lage: Gefangen und verraten von denen, denen er vertraut hatte, die er geliebt hatte. Mit einem Mal war er hilflos und einsam am tiefsten Grund des Lebens.

Aber wir können erahnen, dass dieses Brunnenerlebnis auch ein guter, ja vielleicht sogar notwendiger Wendepunkt im Leben des Joseph war. Dass er gerade hier, am tiefsten Punkt seines Lebens, begann, auch die unergründlichen Gefilde des eigenen Lebens, der eigenen Herkunft und Vergangenheit, die schier unergründlichen Tiefen der eigenen Seele, der eigenen Gefühle zu verstehen. Solche Punkte im Leben gibt es. Und nicht selten sind gerade die Tiefen der beste Lehrmeister, die härtesten aber auch ertragreichsten Wendepunkte. Joseph z.B. lernt nun mit seinen Träumen in guter Weise umzugehen. Diese fast beängstigend zu nennende Fähigkeit des Vorhersehens zum eigenen Vorteil zu nutzen und zu dem anderer. Und Joseph lernt auch – oder zumindest: er beginnt zu lernen, denn noch hat er einen weiten Weg vor sich – Joseph lernt also auch, seine Brüder zu lieben. Richtig zu lieben. Nicht nur: Sich lieben zu lassen, den Brüdern vorzutanzen, vor ihnen zu glänzen. Mit Träumen und mit Kleidern. Das Nesthäkchen. Sondern auch selbst richtig zu lieben. Eine Liebe, die schon fast an Weisheit grenzt. Jahre später in Ägypten als er die Macht hat und seine Brüder sich vor ihm beugen, unwissend noch – sie erkennen ihn nicht -, denn sie haben den Brunnen mit seinem Geschrei aus der Tiefe aus ihrer Erinnerung gelöscht, haben verdrängt, was damals geschah, was sie fühlten, was sie taten. Jahre später also kann Joseph verzeihen. Ja Joseph kann seine Brüder teilhaben lassen an dem eigenen Wachsen und Erkennen im Leben und das nicht als Rache, sondern in geschwisterlicher, bewahrter und mit der Lebenserfahrung auch gewachsener Liebe.

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Joseph hat die Tiefen seines eigenen Lebens, die Tiefen des eigenen Lebensbrunnens ausgelotet. Der vermeintliche versiegte verschüttete Brunnen bei Dotan, der Brunnen, der zunächst ein Gefängnis war, der Brunnen, der scheinbar kein Leben mehr in sich hatte, wird zum entscheidenden Wendepunkt im Leben Josephs. Für Joseph wird diese Brunnenerfahrung, dieses In-die-Tiefe-geworfen-Sein zur Quelle seines weiteren, nun neu beginnenden Lebens, Joseph der Sklave auf dem Weg in die Fremde. Sein Leben beginnt bei Null und hat nun doch nach dieser Brunnengeschichte noch so viel Reichtum für ihn parat.

Liebe Gemeinde!

Es ist eine Hoffnungsgeschichte: Auch Brunnen, die versiegt scheinen, können uns zum Lebensquell werden. Auch Gefangenschaften können Befreiung sein. Auch die Vergangenheit, die Prägung, die Herkunft, die Abhängigkeit, ja die Fehler, die wir haben und gemacht haben, können sich zum Guten wenden, können zum Guten gewendet werden. Wohlgemerkt: Es bleibt eine schmerzvolle Erfahrung, die Joseph hier macht, das darf nicht verschwiegen oder vergessen werden: Verraten und verkauft von den eigenen Brüdern. Wirklich in die Tiefe gestoßen. Hier unten ist das Leben dunkel und kühl, und man fragt sich: Gibt es dort oben Wärme? Gibt es dort oben wirklich noch Licht? Oder scheint die Sonne nur für die anderen? Und Joseph sitzt nackt in diesem Brunnen – im wahrsten Sinne des Wortes von seinen Brüdern „entwürdigt“! Er sieht sein Leben bloßgestellt in schamvoller Nacktheit. Hier unten ist sein Leben nun aller Verschönerung und Beschönigung entkleidet. Eben so wie Joseph von seinen Brüdern entkleidet wurde.

Liebe Gemeinde!

Es gibt in unserem Leben solche und solche Brunnen: Es gibt Brunnen, da müssen wir nur herantreten und können frisches Wasser schöpfen. Es gibt aber auch Brunnen, die sind bedrohlich: Schon wenn wir nur an ihrem Brunnenrand stehen, haben wir ein mulmiges Gefühl. Wir beugen uns über den Brunnenrand und sehen hinab in dunkle Tiefe, wir spüren die Kühle, wir sehen ins Nichts. Schwindelerregend! Es ist, als hätte diese Tiefe eine eigene Anziehungskraft. Bedrohlich! Wie leicht kann ich das Gleichgewicht verlieren und hinabstürzen! Also schnell wieder einen Schritt zurück. Mit pochendem Herzen. Wie schnell ist man doch in so einen Brunnen gefallen! Jede und jeder!

Ja, ich denke, jede und jeder kennt solche Josephsbrunnen: Viele haben schon an ihrem Rand gestanden, fröstelnd von der Kühle, die da aufsteigt, schwankend ob der Schwindel erregenden Tiefe. Und manch einer ist auch schon hineingestürzt in diese Tiefe eines solchen Josephsbrunnens. Wo dann die eigene Vergangenheit wartet, aber auch die Zukunft – das Leben in seiner unbegreiflichen Ganzheit und Tiefe. Das Leben erscheint hier nackt und bloß und doch unerforschlich. Dunkel ist es am Grunde dieses Brunnens und einsam.

Trauer, Krankheit, psychische Belastungen, Familienzwiste, gescheiterte Ehen. Nicht mehr mithalten können im Leben, auf der Arbeit. Sich überfordert fühlen. All das und vieles andere mehr lässt uns nur einen kleinen Blick werfen über den Brunnenrand in diese unergründliche Tiefe. Ängste und Sorgen, Depressionen und Zwänge, Abhängigkeiten, um die wir vielleicht noch gar nicht einmal wissen müssen, die Josepsbrunnen unseres Lebens tragen die unterschiedlichsten Namen. Noch am Mittwoch haben wir im Literaturkreis über ein Buch von Ulla Hahn gesprochen (Ulla Hahn, Unscharfe Bilder), in dem eine Frau und ihr Vater mit einem Mal am Rande eben einem solchen Josephsbrunnens stehen: Weil sie, die Tochter, ihn, den Vater, meinte erkannt zu haben – auf Fotos der Wehrmachtsausstellung. Als deutschen Soldaten mit Stahlhelm, das Gewehr im Anschlag bei der Erschießung von Zivilisten. Der Brunnendeckel ist geöffnet, die Geschichten der Vergangenheit steigen empor – unscharfe Bilder, Geister, Dämonen. Nackt und bloß.

Die Josephsbrunnen unseres Lebens tragen wirklich die unterschiedlichsten Namen, und alle sind auf ihre je eigene Weise bedrohlich. Man wird hineingezogen wie in einen Strudel, der in die Tiefe des eigenen Seins, der eigenen Vergangenheit, des eigenen Bewusstseins führt.

Eben davon erzählt uns die Josephsgeschichte. In aller Offenheit und auch Bedrohlichkeit. Und doch: Es ist ohne Zweifel ein Hoffnungsgeschichte: Weil dieser Brunnen, diese Tiefe für Joseph zum Wendepunkt wird im Leben. Weil er es schafft, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse in seinem Leben zu nutzen, sie fruchtbar zu machen. Joseph ist immer noch Joseph und doch ist er ein anderer Mensch. Der junge Joseph im bunten Rock und der alte Joseph als Herr über das Korn in Ägypten. Seine Brunnenerfahrung hat ihn die Lebensquellen finden lassen. Seine Brunnenerfahrung hat ihn gelehrt auch in Dürrezeiten überleben zu können. Ja, hier kann er jetzt sogar anderen, seinen eigenen Brüdern, helfen, das Leben retten. Sie endlich richtig lieben.

Joseph ist nun ein Mann, der um seine Fehler und Unzulänglichkeiten weiß. Ein Mensch, der die Angst kennen gelernt hat und die Dunkelheit und die Tiefe. Ein Mensch, der auch Dinge in seinem Leben erkannt hat, für die er selbst nichts konnte, die ihm sozusagen auferlegt waren – ja, es kann auch schwierig sein, der Jüngste, der Geliebte, zu sein. Und der all das in seiner Unerforschlichkeit gesehen und damit ins Leben zurückgefunden hat. Der Brunnen von Dotan hat ihn gestärkt. Der Brunnen von Dotan ist ihm in all seiner unerforschlichen Tiefe zum Lebensbrunnen geworden.

Amen!

Gehalten am 19. Februar 2006 in der Ev.ref. Gemeinde Bayreuth


Simon Froben