Wie junge Gazellen-Zwillinge, die unter den Lilien weiden, sind die Brüste der Geliebten und einer Gazelle gleicht auch der Geliebte (Hohes Lied der Liebe 4,5; 2,9). Die Gazelle ist das Tier der alttestamentlichen Liebeslyrik. Die Gazellen werden beschworen, die Liebe nicht zu stören (Hoheslied 2,7; 3,5). Einst waren sie die Begleiterinnen der Liebesgöttin, jetzt sind sie Bild für die geliebte Frau:
„…freue dich an der Frau deiner Jugendzeit, am lieblichen Reh und der anmutigen Gazelle. Ihre Brüste sollen dich allezeit trunken machen, an ihrer Liebe sollst du dich immer berauschen. Warum, mein Sohn, willst du dich an einer anderen berauschen und den Busen einer Fremden umarmen?“ (Sprüche 5,18ff.)
Die Gazelle ist die Anmut in Tier. Das hebräische Wort für Gazelle heißt auch Zierde, Herrlichkeit.
In Ländern, wo Gazelle beheimatet sind, kennt die Sprache verschiedene Redewendungen, die ihr huldigen:
Jedermann denkt, seine eigenen Flöhe sind Gazellen.
Lieber ein gehorsames Affenweib als eine widerborstige Gazelle.
Ein Esel ist ein Esel, auch wenn er Sprünge wie eine Gazelle macht.
Ein Igel und ein friedvolles Leben sind besser als eine Gazelle und ein Leben voll Gram.
Jede Küchenschabe ist in den Augen ihrer Mutter eine Gazelle.
Redewendungen mit Gazellen hat unsere Sprache nicht zu bieten, lediglich ein bekanntes, vorwärts- und rückwärts zu lesendes Palindrom gibt ihr Raum „Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie.“
Im Arabischen ist die Gazelle ein weiblicher Vorname, im Deutschen ist sie auf dem Weg, dies zu werden. Die Jüngerin Tabita, von der die Apostelgeschichte erzählt, dass sie viel Gutes tat und reichlich Almosen gab, nennt die Zürcher Bibel „die Gazelle“, gemäß der Übersetzung des aramäischen Namens Tabita ins Deutsche:
„alle Witwen traten zu ihm und zeigten Petrus unter Tränen die Kleider und Gewänder, die die Gazelle gemacht hatte, als sie noch unter ihnen war.“ (Apg 9,39)
Einen angemessenen Lebensraum kann Europa den Gazellen nicht bieten. Der Anblick wahrer Grazie bleibt den ZOO-Besuchern verborgen: „Anmut hasst den Zwang“, das wusste bereits der Vorsokratiker Empedokles. Einzig die Gazelle der Wildnis zeigt den Liebreiz der Freiheit.
bs, Juli 2016