Stammzellforschung – Tabu und Hoffnung auf Heilung

Ethische Überlegungen aus evangelischer Sicht: Hermann Barth, Wolfgang Huber, Ulrich Körtner, Hartmut Kreß

Mit der im Frühjahr 2008 bevorstehenden Entscheidung des Deutsches Bundestages über eine mögliche Änderung des Stammzellgesetzes von 2002 melden sich erneut auch evangelische Theologen mit ihren Argumenten pro oder contra Stammzellforschung zu Wort.

Aus dem Kirchenamt der EKD lässt ihr Präsident Hermann Barth verlauten, Christen könnten in der Diskussion um eine Verschiebung des Stichtages mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein. Bei einer Entscheidung zur (weiteren) Freigabe der Forschung an embryonalen Stammzellen warnt Barth Christen davor, gegen ihr Gewissen zu handeln. Dabei setzt er voraus, dass Christen, die diese Forschung befürworten bzw. selbst betreiben, ein nicht zu überwindender „Widerspruch zu biblisch-christlichen Maßstäben“ vorzuhalten sei. Auch eine Verschiebung des Stichtages würde den Kompromiss von 2002 nicht „wertlos“ machen, „im Gegenteil: Sie gibt ihm den Wert wieder zurück, den er 2002 hatte - nämlich beiden Seiten, den Advokaten des konsequenten Lebensschutzes und den Advokaten der Forschungsfreiheit, etwas zuzumuten und etwas zuzugestehen.“

Embryonen, die sowieso sterben müssen, für die Forschung nutzen?
Der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, betont, der Kompromiss von 2002 habe dazu beigetragen, „den strengen Maßstab des deutschen Embryonenschutzgesetzes aufrecht zu erhalten“. Prinzipiell lehnt Huber eine Abschaffung des Stichtages ab, nicht jedoch seine Verschiebung. Einer einmaligen Verschiebung des Stichtages hat auch die EKD-Synode im November 2007 zugestimmt. In einer für die weitere Stammzellforschung unzulänglichen Regelung und der Argumentation einer prinzipiellen Unzulässigkeit dieser Forschung sieht Huber die Gefahr, eine „komplette Freigabe“ der Gewinnung von embryonalen Stammzellen voranzutreiben. Dagegen spreche die menschliche Würde, die ein Embryo von Anfang an habe. Ein Embryo dürfe nicht zu Forschungszwecken hergestellt und getötet werden, doch sei zu bedenken, dass bei künstlichen Befruchtungen überzählige Embryonen entstehen. Es müsse gefragt werden, ob aus diesen Embryonen, die ohnehin irgendwann absterben, Stammzellen gewonnen werden dürfen, um mit ihnen Heilungsmöglichkeiten zu erforschen. (Zitate aus einem ausführlichen Artikel der EKD-Pressestelle vom 8. Februar 2008. Dort auch weitere Links zum Thema.)

Ein Mensch besteht nicht nur aus seinen Chromosomen 
Ulrich Körtner, Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Vorstand des dortigen Instituts für Recht und Ethik in der Medizin, kritisiert die Argumentation Wolfgang Hubers und der EKD-Synode: Ihre „eingeschränkt forschungsfreundliche Haltung“ begründe die EKD „mit keinem einzigen ethischen oder theologischen Argument von Gewicht, sondern schlicht pragmatisch“ (epd-Dokumentation, 5). Körtner sieht das „Geheimnis“ nicht gelüftet, wie „Geist und Logik des deutschen Stammzellforschungsgesetzes“ sich mit einer Position vereinbaren lassen, die annimmt, „bei jeder befruchteten Eizelle handle es sich schon um einen Menschen“ (ebd.). Wer das deutsche Stammzellforschungsgesetz akzeptiere, sollte auch dazu stehen, „damit de facto die Zerstörung von Embryonen für die Forschung, wenn schon nicht gutzuheißen, so doch zumindest nicht abzulehnen.“ (a.a.O. 6) Körtner kritisiert im Hinblick auf die ethische Entscheidung zur Bewertung der Stammzellforschung die Ableitung einer moralischen Bewertung aus biologischen Sachverhalten. Embryonen ab der Befruchtung werden auf Grund biologischer Fakten mit Menschen gleichgesetzt. „Gottebenbildlichkeit, Personalität und Menschenwürde“ seien jedoch „transempirische Zuschreibungen“. Das bedeutet: Auch biologische Fakten zur Frage nach dem Anfang des Lebens müssen zur Bestimmung eines Menschen hinzugezogen werden, sie sind jedoch nicht die allein entscheidenden „Indikatoren“. Hinter dieser Argumentation steht eine Sicht des Menschen als eines Lebewesens, das in „vielfältigen Bezügen“ erkennbar ist: „Ein diploider Chromosomensatz reicht dazu kaum aus.“ (ebd.) Theologisch gründet diese Argumentation in einer „Zurückhaltung“ evangelischer Ethik „gegenüber der Normativität des rein Natürlichen“.

Die Totipotenz einer Zelle, ihre Fähigkeit zu einem kompletten Individuum heranzuwachsen, als „hinreichendes Kriterium für Menschsein“ zu erklären, ist nicht zwingend in allgemeiner Vernunft begründet, „sondern entspricht z.B. der religiösen Überzeugung der römisch-katholischen Kirche und ihre Lehramtes, die aber keineswegs von allen anderen christlichen Kirchen und auch nicht vom Judentum geteilt wird“ (a.a.O., 12). Im Blick auf die Totipotenz einer Zelle und ihrer Bewertung im Blick auf das Menschsein gibt Körtner zu bedenken, dass auch aus medizinischer Sicht fragwürdig sei, ob jede befruchtete Eizelle als Embryo oder „embryonaler Mensch“ zu bezeichnen sei. Nicht jede befruchtete Eizelle entwickelt sich zu einem lebensfähigen Embryo. Auch werde das Wort „Embryo“ ungenau gebraucht. Nach der Kernverschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht durch eine erste Teilung die Morula. Erst nach mehreren Tagen hat sich dieser Zellhaufen zu einer Zellblase entwickelt, die eine Frühform des Embryos ist.
Der „ontologische Status“ früher Embryonen in vitro hängt in erheblichem Maße von den handelnden Forschern ab. Das zeigt ein Gedankenexperiment: Ein Forscher entnimmt einem Zellhaufen eine totipotente Zelle. Angenommen, es läge nun ein zweites Individuum vor. Was geschähe mit diesem, wenn der Forscher sich anders besinnt und es wieder dem ursprünglichen Zellhaufen einfügt? Wo bliebe dann das zweite Individuum?

Körtner kommt zu dem Schluss: „Es gibt gute Gründe gegen eine schrankenlose Freigabe der Erzeugung und Beforschung von Embryonen. Gute Gründe sprechen auch gegen das reproduktive Klonen von Menschen. Für die Stammzellforschung bedeutet dies, dass die Forschung an adulten Stammzellen bevorzugt zu fördern ist. (…) Eine ethische Position, die sich unter Berufung auf das Totipotenzargument kategorisch gegen jede Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ausspricht, ist jedoch schlecht begründet“ (a.a.O., 13). (Zitate aus: U. Körtner, Darin irrt der Kardinal – An der Frage nach dem Status des Embryos allein entscheidet sich nicht die ethische Zulässigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen. Kommentar zur aktuellen kirchlichen Kontroverse; ders., Stammzellforschung. Zum Stand der Forschung in Österreich, beide Texte in: epd-Dokumentation zur Stammzellforschung vom 12. Februar 2008)

„Sonderstatus“ für frühe Embryonen und Freiheit für die Forschung
Hartmut Kreß, Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, Abteilung Sozialethik, betont, aus der Sicht evangelischer Ethik müssten unterschiedliche Güter und Werte in einen Ausgleich gebracht werden: der Lebensschutz früher Embryonen, die Freiheit der Forschung und der Gesundheitsschutz bzw. die bestmögliche Gesundheitsversorgung auch zukünftiger Generationen.

Bei der Frage, ob der frühe Embryo als menschliches Leben zu achten sei, schlägt Kreß vor, ihm einen „Sonderstatus“ zuzusprechen, „dem zufolge er im Vergleich mit dem weiter entwickelten Embryo oder dem Fetus einen abgeschwächten Schutzanspruch besitzt“ (epd-Dokumentation, 22). Als Begründung führt Kreß zum einen an, dass maßgeblich von den äußeren Umständen, also der Einnistung in die Gebärmutter, abhinge, ob sich ein früher Embryo zu einem Menschen ausbilden könne, und zum anderen die neue naturwissenschaftliche Einsicht, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle die genetische Individualität und Identität eines Lebewesens noch nicht endgültig festgelegt ist.

Kreß selbst kommt zu dem Ergebnis: „Wenn man die drei Komponenten der ethischen Abwägung aufgreift – den frühembryonalen Lebensschutz, die Forschungsfreiheit und die Schutzpflicht des Staates zugunsten menschlicher Gesundheit –, führt dies dazu, dass humane embryonale Stammzellforschung unter öffentlicher Kontrolle und unter transparenten Bedingungen zugelassen, ja gefördert werden sollte.“ (epd-Dokumentation, 23; Zitat aus: H. Kreß, Die Diskussion zur humanen embryonalen Stammzellforschung in der evanglischen Ethik und Schlussfolgerungen für die Reform des Stammzellgesetzes, in: epd-Dokumentation zur Stammzellforschung vom 12. Februar 2008).

Literatur
epd-Dokumentation zur „Stammzellforschung“ vom 12. Februar 2008

Links
Eine Einführung zur Stammzellforschung mit aktuellen Links zur Debatte um die Verschiebung des Stichtages auf Wikipedia

epd-Dokumentation zur „Stammzellforschung“ vom 12. Februar 2008: Inhaltsverzeichnis und Möglichkeit zur Bestellung

EKD-Berichterstattung über die aktuelle Diskussion zur Verschiebung des Stichtags

„Pluralismus als Markenzeichen“ – ein Manifest von Reiner Anselm, Johannes Fischer, Christofer Frey, Hartmut Kreß, Trutz Rendtorff, Dietrich Rössler, Christian Schwarke und Klaus Tanner, veröffentlicht am 23. Januar 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Hartmut Kreß: Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatzfragen und gegenwärtige Entscheidungsprobleme (Präimplantationsdiagnostik; Nutzung von Stammzellen). PDF

Hartmut Kreß: Reproduktionsmedizin und embryonale Stammzellforschung - neue Impulse in der ethischen, ärztlichen und rechtlichen Diskussion, in: Hessisches Ärzteblatt 67 / 2006, H. 10, 730-733. PDF


Barbara Schenck
ÖRK-Feature von Celia Deane-Drummond

Der sich rasch entwickelnde Bereich der Stammzellenforschung mobilisiert ungeheure Geldmengen an privaten und staatlichen Zuschüsse. Aber er wirft auch tiefgehende ethische Fragen zur gesundheitlichen Gerechtigkeit und zur Würde menschlichen Lebens auf.